- Politik
- Zwei Jahre Ukraine-Krieg
Petra Erler: »Der Russenhass ist geblieben«
Die Politikwissenschaftlerin Petra Erler zur westlichen Strategie des Sieg-Friedens in der Ukraine und zu Chancen für eine Konfliktlösung
Vor wenigen Tagen hat Katarina Barley, Vizepräsidentin des EU-Parlaments und Spitzenkandidatin der SPD für die Europawahl, eine »europäische Atombombe« in die Diskussion gebracht. Unausgesprochener Hintergrund sind mögliche russische Kriegspläne gegen EU-Staaten. Ist diese Gefahr real?
Ich beobachte mit großer Sorge die Tendenz, gefährlichen Irrsinn in die Welt zu setzen. Der Nichtweiterverbreitungsvertrag für Atomwaffen ist eines der wichtigsten Elemente, um die nukleare Hochrüstung zu begrenzen. Wer keine Atomwaffen besitzt, verpflichtet sich keine zu erwerben. Atommächte wiederum verpflichteten sich, diese Staaten nicht atomar anzugreifen. Allen steht die friedliche Nutzung der Atomenergie offen. Der schwächere Teil des Vertrages ist, dass die Atomwaffenmächte zusagten, dass sie sich irgendwann der Atomwaffen entledigen würden. Darauf wartet die Welt noch heute. Richtig wäre, ein generelles Atomwaffenverbot auf den Weg zu bringen, statt jetzt diesen Vertrag brechen zu wollen und damit zu beerdigen.
Nochmal zurück: Geht von Russland eine Gefahr für EU und Nato, für den sogenannten Westen insgesamt aus?
Nein. Die russische Regierung hat, kaum dass der US-Präsident die Behauptung aufstellte, Russland werde nach der Ukraine ein Nato-Mitglied überfallen, sofort reagiert und das scharf zurückgewiesen. Jeder, der bei gesundem Menschenverstand ist, weiß, dass ein Angriff auf die Nato, selbst wenn er konventionell beginnen würde, in die Katastrophe führt. Wir würden uns im dritten Weltkrieg befinden. Nicht in einem verdeckten dritten Weltkrieg, so, wie wir ihn jetzt haben, sondern in einem heißen dritten Weltkrieg, in dem sich zwei Atommächte duellieren. Ein solcher Krieg würde zum Schicksal Karthagos führen: Wir bringen uns und die ganze Welt um.
Petra Erler studierte Wirtschaftswissenschaften und promovierte am Institut für Internationale Beziehungen an der Akademie für Staat und Recht in Potsdam. In der Wendezeit war sie unter anderem Staatssekretärin im Amt des letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière, zuständig für europäische Fragen. Seit den 1990er Jahren war sie bei der EU-Kommission in Brüssel tätig. Als Kabinettschefin des Vizekommissionspräsidenten Günter Verheugen beschäftigte sie sich an zentraler Stelle mit der Erweiterung der EU, insbesondere um osteuropäische Staaten. Heute ist Erler Geschäftsführerin eines Strategieberatungsunternehmens in Potsdam. Im Februar 2023 war sie Erstunterzeichnerin der von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierten Erklärung zu einer Verhandlungslösung im Ukraine-Konflikt.
Sie meinen, wir befinden uns in einem verdeckten dritten Weltkrieg?
Ja. Es geht um viel mehr als um die Grenzen der Ukraine. Wir sind in einem Stellvertreterkrieg, der militärisch in der Ukraine ausgetragen wird, mit dem Ziel, Russland zu schwächen und potenziell auch zu zerstören. Gleichzeitig führen wir einen Wirtschaftskrieg, über den der US-Präsident sagt, er komme in seinen Wirkungen einem militärischen Krieg gleich. Unser Kriegsziel ist nicht, die Ukraine zu retten, wir zielen auf Russland. Das ist ja auch der Grund, warum die Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine 2022 scheiterten. Es gab im März 2022 Aussicht auf einen verhandelten Frieden: Neutralität der Ukraine gegen den Rückzug Russlands aus dem Donbass. Der Westen hat das nicht gewollt, er setzte auf Sieg-Frieden. Das bedeutet, es soll in der Ukraine militärisch bis zum Ende gekämpft werden. Aber was passiert, wenn die Ukraine nicht siegt? Dann verliert die Nato stellvertretend mit. Was wird sie dann tun? Das ist die Situation, die ich fürchte.
Wo soll denn das Interesse des Westens an einer Zerstörung Russlands liegen? Russland ist nicht mehr die Großmacht wie noch vor 20, 30 Jahren.
Russland ist ein bedeutendes europäisches Land, auch wenn es große Probleme hat. Es verfügt über gigantische Mengen an Rohstoffen, auch strategische. Es vollbringt große wissenschaftliche und technische Leistungen. Russland ist ein großes Kulturland, das Weltkultur geprägt hat. Der Atomwaffenbesitz rückt es in den kleinen Kreis der Mächtigsten. Keine russische Führung –weder unter Gorbatschow, noch unter Jelzin und auch nicht unter Putin oder zwischendurch unter Medwedjew – wollte jemals auf die Rolle als Weltmacht verzichten. Sie alle haben sich der alleinigen Führungsrolle der USA widersetzt. Die USA glauben, wenn sie Russland besiegen, schrecken sie China ab. Nicht zuletzt: Russland ist das Land, von dem die Oktoberrevolution und damit eine alternative Gesellschaftsidee ausging. Es hat selbständig diese Idee wieder abgeschafft. Aber der über Jahrzehnte verbreitete Russenhass ist geblieben. Ich habe gerade mit großem Entsetzen ein Buch gelesen über die deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg und darüber, wie tief schon damals in der deutschen Gesellschaft, vor allem in den deutschen Eliten, die Ansicht verwurzelt war, dass sie den Russen überlegen sind. Ich glaube nicht, dass sich daran so sehr viel geändert hat.
Selbst wenn es so wäre: Mit dem Angriff auf die Ukraine hat Putin nicht gerade Sympathie für sich und sein Land geweckt.
Damit darf man auch nicht sympathisieren, denn es steht vollkommen außer Frage, dass Putin sich eines Völkerrechtsbruchs schuldig gemacht hat, indem er die beiden autonomen Donbass-Republiken anerkannte, so wie die Duma das gefordert hat, deren Beistandswunsch nachkam und den Krieg gegen die ukrainische Zentralregierung begann, gemeinsam mit dem Donbass. Der Punkt ist nur, und der globale Süden weiß das, dass dieser Krieg eine lange Vorgeschichte hat. Er wäre vermeidbar gewesen, wenn die USA bzw. die Nato, einschließlich diverser deutscher Regierungen, eine Verständigung mit Russland auf Augenhöhe gesucht hätten. Russland ging es immer »nur« um gleichberechtigte Mitsprache in Sicherheitsfragen, uns immer um Dominanz. Im letzten Halbjahr vor dem Krieg hat der Westen mehr Energie aufgebracht, den Wirtschaftskrieg zu planen, als den Konflikt, der zu explodieren drohte, zu befrieden.
Es gibt inzwischen eine Reihe von Analysen, die sich mit der Vorgeschichte des Kriegs beschäftigen. Trotzdem: Zwei Jahre nach Kriegsbeginn ist kein Ende in Sicht. Sie sagen, die Nato will siegen, Putin will das auch. Das sind schlechte Chancen für eine Verhandlungslösung.
In der Rückschau ist es so, dass der Westen die Strategie des Sieg-Friedens wählte. Also wird der Konflikt militärisch ausgefochten. Wie die Entwicklungen laufen, gibt es keine militärische Patt-Situation. Wir haben eine militärische Überlegenheit Russlands. Es kann mehr Soldaten mobilisieren und hat eine von uns weit unterschätzte, leistungsfähige Rüstungsindustrie. Russland hat die besseren Waffen und die effizientere Militärstrategie. Unsere Position, nicht verhandeln zu wollen mit Russland, führt dazu, dass in diesem Krieg ein großes europäisches Land, in dem Fall die Ukraine, ruiniert wird.
Aber auch von Putin kommt kein Angebot für Verhandlungen.
Russlands letzter dokumentierter Verhandlungswille stammt von Ende März 2022. Das Ergebnis hat der Westen nicht gewollt, und folglich durfte es damals die Ukraine auch nicht wollen. Kürzlich hat das Weiße Haus im Interview des US-Journalisten Tucker Carlson mit Putin ein Verhandlungsangebot entdeckt und umgehend zurückgewiesen. Das politische Ziel, Russland erledigen zu wollen, ist so zum Strick geworden, an dem die Ukraine erstickt und wir in Europa gleich mit aufgehängt werden. Wie hoch muss der Leichenberg in der Ukraine noch werden, und wie viel Geld der deutschen Steuerzahler muss noch in die Taschen der Kriegsgewinnler gespült werden, bis klar wird, dass die ganze Kriegserzählung nicht stimmt?
In den USA wird hart um die Hilfen für die Ukraine gestritten, in der EU und der Nato ist das Engagement für Kiew sehr unterschiedlich ausgeprägt. Der alte und möglicherweise neue US-Präsident Trump stellt die Beistandsverpflichtung zur Disposition. Zerlegt sich inzwischen der Westen am Ukraine-Konflikt?
In der Nato ging es zu keinem Zeitpunkt konfliktfrei zu. Das liegt vor allem daran, dass es dort nur eine Stimme gibt, die zählt. Und das ist die amerikanische. Was hat denn 2008 der deutsche und französische Protest gegen eine Mitgliedschaftsoption für Georgien und die Ukraine genutzt? Nicht ohne Grund steht die Nato militärisch immer unter dem Kommando der USA. Die USA sind die Führungsmacht auf dieser Welt, und das wollen sie bleiben, wider alle Vernunft. Sie kennen nur sich und haben keine Freunde, höchstens Alliierte. Trump ist das hässliche Gesicht der USA, der die europäischen Alliierten 2018 erpresste: Wenn wir in Europa nicht bereit sind, die Zwei-Prozent-Regel für Militärausgaben zu erfüllen, dann lässt er uns im Regen stehen. Eingeführt wurde diese Zwei-Prozent-Regel unter Barack Obama. Ganz freundlich hat er alle dazu gebracht hochzurüsten. Wir Deutsche haben vergessen, was die europäische Integration und die Entspannungspolitik uns gelehrt haben – dass Frieden nur dort sicher ist, wo man zusammenrückt, zusammenarbeitet, Konflikte diplomatisch löst. Man kann es auch anders ausdrücken: Wer glaubt, dass Hochrüstung mehr Sicherheit bringt, der hat nichts begriffen.
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