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Sachverstand rettet Leben
Diabetologen fordern Verbesserung der stationären Versorgung für ihre Patienten
Ein Diabetes-Patient mit akuter Unterzuckerung bekommt in einer Klinik Insulin gespritzt: Das kann schnell lebensgefährlich werden. In einem solchen Fall, das wissen Diabetiker, ihre Angehörigen und auch Rettungskräfte, gilt es für den Patienten, rasch wirksame Kohlenhydrate zu sich zu nehmen. Dazu zählen Getränke wie Limonade, Cola oder Fruchtsäfte, aber auch Lebensmittel wie Traubenzucker.
Nächster Fall: Einer Diabetes-Patientin wird, ebenfalls im Krankenhaus, die Insulinpumpe abgestellt. Das kleine elektronische Gerät, etwa so groß wie ein Smartphone, ahmt einige Funktionen einer gesunden Bauchspeicheldrüse nach. Es wird am Gürtel getragen. Über eine kurze Nadel, die am Bauch unter der Haut steckt, wird regelmäßig Insulin abgegeben. Das programmierte Gerät wird also abgestellt und der Patientin verboten, es wieder einzuschalten.
Bei einem weiteren Patienten wird im Zusammenhang mit einer Bypass-Operation am Herzen ein zu hoher Blutzucker festgestellt. Zwar wurden hier die aktuellen Mahlzeiten rechnerisch berücksichtigt, nicht aber der Blutzuckerwert zuvor. Die drei Fälle ereigneten sich in Kliniken ohne Zertifizierung für die Diabetes-Behandlung. Berichtet wurden sie von Norbert Kuster vom Landesverband Nordrhein-Westfalen in der Deutschen Diabetes-Hilfe. Im Anschluss erklärt der Patientenvertreter aber auch, dass in zertifizierten Krankenhäusern die Versorgung hervorragend laufe: »Hier wird das Vorgehen besser erklärt, die Patienten werden besser mitgenommen und fühlen sich so sicherer. Wir als Patienten wollen wissen, was mit uns passiert.« Kuster empfiehlt Krankenhäusern, die noch nicht zertifiziert sind, dies schnell nachzuholen. Dann würden sie von seiner Organisation auch auf der Webseite empfohlen.
»Wir haben zwar schon über 1000 zertifizierte Diabetes-Praxen in Deutschland, aber bei den Krankenhäusern ist noch Luft nach oben«, ergänzt Baptist Gallwitz, Vorstandsmitglied der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG). Die Organisation berichtete in der letzten Woche in Berlin über aktuelle Probleme bei der Behandlung der Stoffwechselkrankheit.
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»Nur etwa jede sechste Klinik weist eine adäquate Diabetes-Expertise auf«, kritisiert Gallwitz. Das kann zu Behandlungsfehlern und Todesfällen führen. Andererseits bringt eine spezialisierte Betreuung Vorteile für Patienten und ist unter dem Strich auch ökonomisch sinnvoll: »Sie trägt nachweislich zu einer Senkung der Krankenhaustage und -wiederaufnahmen, zu einem niedrigeren HbA1c-Wert bei besserem Krankheitsmanagement und zu weniger Folgekomplikationen bei«, erläutert Gallwitz. Der genannte Wert, auch Langzeittzucker genannt, zeigt den Anteil an rotem Blutfarbstoff, an den Zucker gebunden ist.
Auch angesichts der Veränderungen durch die Krankenhausreform könnten Zertifizierungen als weiterer Pluspunkt in der Versorgungsqualität wichtiger werden. Die DDG hat hier nicht nur den Wunsch, dass das finanziert wird, sondern auch klare Vorstellungen dazu: Krankenhäuser mit Diabetes-Behandlungsstrukturen sollten finanzielle Zuschläge erhalten, Einrichtungen ohne eine solche Expertise hingegen finanzielle Abschläge.
Hinzu kommt, dass in der anteilmäßig wachsenden Gruppe der älteren Menschen immer mehr einen Typ-2-Diabetes entwickeln oder diese Krankheit schon haben. Laut einer 2022 veröffentlichten Prognose wird sich die Häufigkeit von Typ-2-Diabetes im Jahr 2040 im Vergleich zu 2010 verdoppeln. Eigentlich wäre für die sachgerechte Versorgung dieser Patienten eine entsprechende Zertifizierung der meisten Krankenhäuser notwendig. Auch für die Beschäftigten wäre das von Vorteil, meint Julia Szendrödi vom Uniklinikum Heidelberg: »Wenn geregelte Fort- und Weiterbildungen, Hospitationen und regelmäßige Besprechungen fester Bestandteil der Arbeit werden, sind die Mitarbeitenden sicherer in der Behandlung von Menschen mit Diabetes, und ihre Zufriedenheit steigt.«
Neben der stationären Versorgung beschäftigt Diabetologen nicht nur in Deutschland ein spezielles pharmazeutisches Problem. Es geht um die Verfügbarkeit der sogenannten Abnehmspritzen. Die zugrunde liegenden GLP-1-Rezeptor-Agonisten werden schon lange in der Diabetes-Therapie verwendet, erläutert Internistin Szendrödi. 2005 wurde erstmals eine solche Substanz zur Blutzuckersenkung bei Diabetes mellitus zugelassen.
In der Öffentlichkeit wird vor allem der von Promis befeuerte Hype um die neuen Vertreter der Wirkstoffgruppe wahrgenommen. Allerdings ließen sich bisherigen Erkenntnisse zu den Medikamenten nicht automatisch auf Menschen mit gesundem Stoffwechsel übertragen, schränkt Szendrödi ein. Eine Zulassung gegen Adipositas allein ist neu, solche Produkte müssen gesetzlich versicherte Patienten in der Regel selbst bezahlen. Wenn Diabetes-Patienten jedoch bereits auf eines der neueren Mittel eingestellt sind, könnte es schwierig werden. Dass sie auch nach einer Unterbrechung der Therapie jederzeit wieder in diese einsteigen können, wird die wenigsten trösten. Für alle gilt: Wird das Medikament abgesetzt, steigt das Gewicht wieder an. Insofern verständlich, dass Semaglutid und Co. nur mit ärztlicher Begleitung eingesetzt werden sollten. Die Therapie eröffnet die Chance, bei sinkendem Gewicht den Lebensstil umzustellen und dauerhaft zu mehr Bewegung zu kommen.
Martin Schulz, Geschäftsführer Pharmazie bei der Apothekervereinigung Abda, warnt vor »massiven Versorgungsengpässen« voraussichtlich bis Jahresende. Den enormen weltweiten Anstieg der Nachfrage könnten Hersteller bisher nicht bedienen, der Aufbau neuer Werke würde Jahre dauern. Folgen der hohen Nachfrage seien zudem gefälschte Rezepte oder Verordnungen durch fachfremde Ärzte.
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