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- Gitarren wie Wände
Shoegaze: Melancholie und Euphorie
Spielen, als wäre die Welt um einen herum nicht da: Shoegaze-Musik ist zurück
Pop wird primär mit Expressivität und Aus-sich-rausgehen assoziiert. Mit den Zeichen spielen, Tanzen, sich in Szene setzen. Man übersieht oder überhört manchmal, wie groß die Gebiete sind, in denen habituell eher stille Menschen, Introvertierte und Stubenhocker*innen, Songs schreiben und Klänge bauen.
Ab Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde das In-sich-Gekehrte zum Genrenamen, der ein Segment im britischen Pop beschreiben sollte: Shoegaze. Das war ein Sammelbegriff für Bands, die eine verträumte, auf verschiedene Arten schwebende, entrückte Gitarrenmusik spielten. Weil die Musiker*innen auf der Bühne zu schüchtern waren, um den Blick ins Publikum zu richten, stierten sie eben auf ihre Schuhe. Spielen, als wären das Publikum und damit auch die Welt um einen herum nicht mehr da.
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Diese Haltung hatte im Sound eine Entsprechung: Gitarren, deren Klänge, manchmal als Wände, manchmal als repetitive melodiöse Patterns Weltabgewandtheit suggerieren und befördern. Allerlei verhuschte, schwebende Sounds im Hintergrund, ein sehr präsenter Joy-Division-Bass und ein stoisches Schlagzeug, die den ganzen Wust zusammenhalten, als Gerüst.
Shoegaze war nie ganz weg und erlebte immer wieder überschaubare Hypes, die meist verbunden waren mit überraschenden Comebacks von stilbildenden Bands wie zum Beispiel My Bloody Valentine 2013. Im letzten Jahr gab es sogar ein massives Comeback: Gestreamt und gekauft und, vor allem, auf Tiktok verbreitet wurde die Musik dieses Mal nicht von Menschen, die all das schon seit 30 Jahren kennen und sich über die Rückkehr alter Held*innen freuen, sondern von 20-Jährigen. Ein Sound-Snippet der britischen Band Duster aus dem 1997 erschienenen Song »Stars Will Fall« gehörte 2023 zur meistverwendeten Tiktok-Clip-Musik; der Hashtag #dusterband bringt es auf inzwischen über 20 Millionen Views.
Jenseits der sozialen Medien führte die unerwartete Renaissance von Shoegaze dazu, dass Ende Januar in der ausverkauften Berliner Columbiahalle 20- und 40-Jährige im Verhältnis von etwa zwei Dritteln zu einem Drittel beieinanderstanden und den wie verschleiert wirkenden entkörperlichten Songs der britischen Band Slowdive zuhörten, die seit ihrer Reunion 2017 kommerziell wesentlich erfolgreicher ist als in der ersten Bandphase in den 90er Jahren.
Der Hype hat nicht nur die Renaissance von Musik, die vor 30 Jahren entstand, zur Folge, sondern auch die Gründung einer Menge neuer junger Shoegaze-Bands, die sich in der Genregeschichte bedienen und mit dieser im Rücken wunderschöne Musik fabrizieren. Ein ähnliches Bild wie bei Slowdive bekam man so auch am vergangenen Freitag beim Berliner Konzert der britischen Band bdrmm zu sehen, wenn auch in kleinerem Rahmen, im »Hole« in der Hermannstraße: ein ausverkaufter Raum, im Publikum lebensältere Menschen mit Bierglas in der Hand, daneben 20-Jährige in Schwarz.
Das Paradox, das Shoegaze in seinen schönsten geglückten Passagen und Momenten (und das Schöne und Geglückte ist in diesem Genre sehr häufig) vom egalen Wohlklang unterscheidet, findet man auch in der Musik von bdrmm, und das live noch stärker als auf den bislang zwei Alben, »Bedroom« (2020) und »I Don’t Know« (2023): Die Musik ist in sich gekehrt zum einen, will zum anderen aber immer wieder sehnsüchtig ins Weite, Unbeschwerte, Befreite. Idealtypisch kann man diese Gleichzeitigkeit in dem Slowdive- Song »When the Sun Hits« nachhören, aber eben auch in fast allen Songs vor allem des ersten bdrmm-Albums.
Live verbinden bdrmm schimmernde, einhüllende Gitarrenwände mit ätherischem, nach hinten gemischtem Gesang und sweeten Melodien, die genretypisch überlagert sind von Distortion und Geräusch. Übertragen auf die Atmosphäre: Musik, die Melancholie als Haltung zur Welt in ihr Klangbild aufnimmt und zugleich immer wieder ausschert ins Euphorische. Letzteres aber ist hier nicht verbunden mit Durchdrehen und Kraft und Souveränität, sondern im Gegenteil mit Selbstaufgabe und Aufgehen im Sound.
Als Kategorie ist Shoegaze noch mal eine Idee offener als andere Genrebegriffe, weil es eher eine bestimmte Atmosphäre benennt und keine klare Definition anbietet. Offener auch, weil die Soundästhetik trotz aller habitualisierten Schüchternheit in verwandelter Form in anderen Ecken des Popgeschehens präsent ist: Immer dort, wo die Musik Weltabgewandtheit kommuniziert und befördert, wird gerne auf Ideen und Sounds zurückgegriffen, die die frühen Jesus & Mary Chain, als zentrale Vorläufer in den 80ern, und dann My Bloody Valentine oder Ride entwickelt hatten. Shoegaze hatte wesentlichen Einfluss auf den Postrock der 90er und 2000er Jahre (Mogwai und alle Mogwai-Epigonen hätte es ohne all das nicht gegeben) und auf den in den 80ern mehr oder weniger parallel entstandenen Dream Pop sowie auf Slowcore.
Ein Genre, das, von den Distortion-Gitarren abgesehen, wenig klar definierte Merkmale hat (und selbst die sind keine notwendige Bedingung), kann in alle Richtungen ausgreifen. Bdrmm führen diese Offenheit weniger auf der Bühne vor, sondern im Studio. Auf dem zweiten Album »I Don’t Know« sind Loops und Electronica bestimmend und die klassischen Laut-Leise-Dynamiken nicht mehr so dominant. Was geblieben ist, ist das Schweben in der Musik, das Versprechen, Hörerin und Hörer mittels Schalldruck alles Gewicht und alles Drückende zu nehmen.
Diese strukturelle Offenheit findet man auch bei vielen der jüngeren Projekte mit Shoegaze-Bezug. Die US-Sängerin Jane Remover zum Beispiel mischt auf ihrem kürzlich erschienenen Album »Census Designated« im Schlafzimmer entstandenen flirrenden, melodiebesoffenen Gitarrennoise mit Stimmverzerrern und Electronica. Und der solipsistische und gebrochen-verunsicherte Lo-Fi-Pop auf »kenopsia«, dem 2023 veröffentlichten Album des 17-jährigen Musikers Quannic aus Florida, verbindet Schrott-Midi-Sounds, zerhackten Ambient und fragile Loops zu einer völlig eigensinnigen Version von Shoegaze.
Warum erlebt diese Musik gerade jetzt so ein starkes Comeback? Die küchensoziologische und naheliegende Erklärung scheint allzu einfach: Krisenzeiten begünstigen den Erfolg von eskapistischer Musik. Ein eskapistischerer Pop als die traumartige Soundästhetik des Genres jedenfalls lässt sich kaum denken. Zumindest wenn es um stillen Eskapismus geht, der sein Entkommen mit Wegdriften verbindet, und nicht um den lauten.
Vielleicht geht es weniger um die Konjunktur als um die Konstanz. Der Wunsch, der Welt abhandenzukommen und von ihr in Frieden gelassen zu werden, gehört genauso zum Pop wie Durchdrehen und Exzess. Im Shoegaze ist dieser Wunsch nur bestimmend geworden. Weswegen diese Musik in der ein oder anderen Mutation und bei allen Konjunkturen auch bleiben wird.
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