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Neukölln: Kindergesundheit besser trotz Corona
Bezirk präsentiert erste Auswertung von Einschulungsuntersuchungen nach der Pandemie
Die Sorgen während der Pandemie waren groß: Kita- und Schulschließungen, eingeschränktes Sozialleben, selbst geschlossene Spielplätze ließen befürchten, dass die Folgen für Kinder enorm werden. Die Ergebnisse einer am Mittwoch vorgestellten Studie aus Neukölln aber sagen: Alles halb so wild.
In der Studie wird die Einschulungsuntersuchung 2022, die erste nach der Corona-Pandemie untersucht; der Vergleichszeitraum geht bis 2013 zurück. »Tatsächlich lassen sich nach Datenlage keine unmittelbaren pandemiebedingten Nachteile der Kinder für den Schuleintritt oder eine Verschärfung von Chancenungleichheit nachvollziehen«, resümiert der Bezirk in einer Pressemitteilung die Ergebnisse. »Dass es im Vergleich mit den Vorjahren für die Kinder wenig Abweichung gibt, ist beruhigend«, meint Silke Feller, Autorin der Studie und Gesundheitsberichterstatterin des Bezirks Neukölln. Gesundheitsstadtrat Hannes Rehfeldt (CDU) pflichtet ihr bei: »Das ist sogar erstaunlich.« Das sei vor allem den Familien zu verdanken, die in der Pandemie Großes geleistet haben, so Rehfeldt weiter.
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Einschulungsuntersuchungen werden von Ärzt*innen des Gesundheitsamtes durchgeführt. Dabei werden Kinder im Alter zwischen fünf und sieben Jahren untersucht, 2022 waren es in Neukölln 3401. Die Daten sind besonders, denn es ist der einzige Anlass, zu dem Gesundheitsdaten einer gesamten Altersklasse erhoben werden. Das ermöglicht einen repräsentativen Vergleich über die Jahre hinweg. Mit Blick auf Corona erlaubt dies interessante Vergleiche.
Die Ergebnisse der Auswertung zeigen, dass sich Trends, die schon vor der Pandemie begonnen haben, fortsetzen. Der einzige Wermutstropfen: Der Anteil von Kindern mit Übergewicht hat sich vom Tiefststand mit 12,5 Prozent im Jahr 2019 auf 15,3 Prozent erhöht. Studienautorin Feller meint: »Man sieht, dass in allen Statusgruppen das Gewicht nach oben gegangen ist.« Deswegen könne man das auf die Pandemie zurückführen.
Auch ein leichter Rückgang der Kita-Besuchsdauer ist zu verzeichnen, vermutlich auch eine kleine Pandemiefolge. Ein weiterer Effekt: ein verbessertes Impfverhalten, allgemein bei allen Kindern, aber insbesondere bei Kindern aus Haushalten mit hohem Einkommen und hohen Bildungsabschlüssen. So ist beispielsweise der Anteil an Kindern aus dieser Gruppe, die gegen Masern geimpft sind, von unter 85 Prozent 2019 auf über 95 Prozent im Jahr 2022 gestiegen.
Eine Frage, die die Studie nicht beantworten kann: Welche psychologischen oder emotionalen Folgen hatte die Pandemie für die Kinder, die ihre ersten Lebensjahre in der Zeit der Pandemie-Bekämpfungsmaßnahmen von Lockdown bis zu Kontaktsperren verbracht haben? Zwar wird von den Ärzt*innen erfasst, ob es »Auffälligkeiten in der emotional-sozialen Entwicklung« gibt. Dies ist aber nur der Gesamteindruck, der während der Untersuchung entsteht. Der Anteil von Kindern, bei denen solche Auffälligkeiten festgestellt wurden, ist über die Pandemie sogar leicht gesunken: von 22,8 Prozent 2019 auf 21,3 Prozent 2022.
Auch über mögliche Corona-Folgen hinaus lassen sich aus den erhobenen Daten Schlüsse ziehen. Berlinweit ist Neukölln im Vergleich zu vorherigen Jahren »aufgestiegen«. Die Kernindikatoren verbessern sich seit Jahren stetig: Der Anteil von Kindern mit Sprachdefiziten, Auffälligkeiten in der Hand-Auge-Koordination und auch mit Übergewicht (mit Ausnahme der Pandemiedelle) sinkt seit Jahren. Neukölln ist damit bei der Kindergesundheitsliga ins »untere Mittelfeld« der Bezirke aufgestiegen. Ein Erfolg der Gesundheitspolitik im Bezirk. Aber nicht nur: »Es gibt Faktoren, die viel mehr Einfluss haben als das, was wir machen«, erklärt Gesundheitsstadtrat Rehfeldt.
Einer dieser Faktoren dürfte die sich verändernde Sozialstruktur im Bezirk sein. Seit 2013 sinkt der Anteil von Kindern aus Haushalten mit niedrigem Einkommen und niedrigen Bildungsabschlüssen; der von Kindern aus Haushalten mit hohem Einkommen und hohen Bildungsabschlüssen steigt kontinuierlich. Ein Zeichen für wachsende soziale Durchlässigkeit der Neuköllner Gesellschaft? »Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass hierfür ein verstärkter Zuzug von Familien einer höheren Statusgruppe verantwortlich ist und weniger eine Verbesserung der Lage belasteter Familien«, erläutert die Studie.
Der Bezirk versucht trotzdem, an den ihm verfügbaren Stellschrauben zu drehen. Beispielsweise das Programm der Babylotsen – ein Projekt, das in Neukölln gestartet und mittlerweile in ganz Berlin praktiziert wird. Sozialarbeiter suchen dabei die Eltern neugeborener Kinder auf und bieten Unterstützung an. Eigentlich werden nur die Erstgeborenen besucht, in Neukölln alle Kinder. »Wir haben fast alle Geburten erreicht«, erklärt Rehfeldt. Trotz der positiven Entwicklung will der Bezirk weiterarbeiten: »Wir müssen den Zugang ins Gesundheitssystem stärken«, meint Rehfeldt.
Die angespannte Haushaltslage könnte das erschweren. »Wir diskutieren im Bezirksamt teilweise über 1000 Euro«, erzählt der Gesundheitsstadtrat. Angesichts der galoppierenden Inflation, müssten eigentlich mehr Mittel bewilligt werden, um den Status quo in der Versorgung zu halten. Kürzungen könnten die bisherigen Erfolge erschweren. »Wir müssen in allen Punkten noch etwas tun«, meint Rehfeldt.
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