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»Es tut mir leid, Mum«
Aus dem Inferno in die Geschichte zurückschlendern: John Niven schreibt über sich und seinen toten Bruder
Es sind die Worte, die fehlen. »Es tut mir leid, Mum. (…) Glaub mir, es ist besser so. Du bist so besser dran. Ich konnte einfach nicht mehr.« John Niven schreibt hin, was sein jüngerer Bruder Gary, der sich 2010 mit 42 Jahren umgebracht hat, nie gesagt hat. Er hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Er wollte auch gar nicht sterben, eigentlich. Als er die Schlinge in seiner Garage schon geknüpft, das Handgelenk mit Teppichmessern bearbeitet hatte, rief er den Notruf: Er habe Angst, sich etwas anzutun. Die Sanitäter brachten ihn in die Klinik, wo man ihm schnelle Hilfe gegen seine quälenden Kopfschmerzen verwehrte und ihn allein in einer Kammer warten ließ. Er ergriff die Gelegenheit und erhängte sich an seinem Pullover.
13 Jahre danach hat der für seine witzig-rasanten Underground-Romane bekannte John Niven eine Art Doppelbiografie veröffentlicht; geleitet von der Frage, warum das Leben der zwei Brüder – aufgewachsen im Schottland der Siebzigerjahre in einer aus der Arbeiterklasse aufstrebenden Familie – so verschieden verlief (die jüngste Schwester kommt nur am Rande vor). Dabei gibt es überraschende Parallelen: Auch der Bildungsaufsteiger John, der über Nacht zum überbezahlten und nach eigenen Angaben »grauenhaften« A&R-Manager verschiedener Plattenlabels reüssierte, war nicht immer der Musterknabe, für den ihn seine Familie im Gegensatz zum impulsiven Draufgänger Gary hielt.
Beide sprachen den Drogen und dem Nachtleben zu, beide wurden jung zu abwesenden Vätern. »Ich weiß nicht, wie es Gary ging, aber ich weiß, wie ich mich gefühlt habe, wenn die widerstreitenden Emotionen … vom Hintergrundsummen zur krachenden Symphonie anschwollen. Um diesem Lärm zu übertönen, ist jedes Mittel recht.« Vor seinem Durchbruch als »neuer Irvine Welsh« hing John ebenfalls kurzzeitig Suizidfantasien nach.
In seiner Erzählung springt Niven hin und her zwischen den Zeiten, den Rahmen bildet das viertägige Bangen der Familie an Garys Sterbebett. Dass der The-Clash-Fanboy ein bisschen zu viel von seiner eigenen Musiksozialisation erzählt – Vinylnerds kommen auf ihre Kosten – ist insofern stimmig, als er auch im wirklichen Leben den (eher zu den Ravern gehörenden) Bruder aus dem Blick verlor. »1994 gehe ich zurück nach London. Gary geht vor die Hunde.«
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Der fehlende Abschiedsbrief fachte »das Inferno der Selbstzerstörung nur weiter an. Er verlängert (…) die Kettenreaktion unbeantworteter Fragen.« Um die besonders drastische Trauer nach einem Suizid erfahrbar zu machen, hätte es die verunglückte Metapher vom »Tschernobyl der Seele« nicht gebraucht, in die Niven ein bisschen zu sehr verliebt ist. Es reicht, wie er uns auf seine verzweifelte biografische Odyssee mitnimmt und dabei auf vielfältige Erklärungsansätze stößt: Kriegstraumata und Gewaltausbrüche des Vaters, die besonders den unangepassten Gary treffen, Alkoholsucht der Großeltern, Theorien über Sandwichkinder. »Bei Gary waren alle Warnzeichen vorhanden. Er war Mitte 40, alleinstehend, lebte allein, hatte keinen Job, dachte wahrscheinlich, seine besten Jahre lägen hinter ihm, war verschuldet, hatte Schmerzen und litt unter unglaublichen Clusterkopfschmerzen.«
Der große Bruder täuscht klugerweise nicht über das Trügerische seiner Erinnerungen, die Hilflosigkeit seiner Erklärungsversuche und das Konstruierte seiner Erzählung hinweg und reflektiert die Fallstricke von Autobiografien. Immer wieder spricht er die Lesenden direkt an und macht die Tricks des von Schuldgefühlen zerfressenen Erzählers, der vom Ich plötzlich zum Er übergeht, transparent: »Genug jetzt mit dem erbärmlichen Versuch, mich hinter der dritten Person zu verstecken.« In einer Rückblende genießt er ganz ungeniert die vermeintliche Allmacht des Autors. Eine der »größten Freuden beim Weben eines Handlungsstrangs« sei es, den Toten – »kaum, dass wir ihn haben sterben sehen – zurück in die Geschichte« schlendern zu lassen, »als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt: ›He, Sackgesicht!‹«
Einmal streut Niven einen im häuslichen Wohnzimmer angesiedelten Drehbuchdialog ein, der zeigt, wie sehr er sich als junger Akademiker von seiner Familie entfernt hat, und der wie so oft damit endet, dass der charismatische Proll seinen distinguierten Bruder als »Schwuchtel« beschimpft. Anders als die französischen Autoren der einschlägigen autobiografischen Romane über das Verlassen des Herkunftsmilieus, geht Niven hart mit sich ins Gericht, wenn er erzählt, wie er seine Londoner Freunde mit Garys kleinkriminellen Eskapaden unterhält oder gönnerhaft ahnungslos Ratschläge gibt. »Diese Autobiografie« fühle sich an »wie ein erzwungenes Geständnis«. Der Tod des Bruders lässt ihn mit mehr Wärme an die Ausgestoßenen der Gesellschaft denken, die – wie Gary in seinen letzten Stunden – im Dunkeln und in der Kälte sitzen, weil man ihnen den Strom abgestellt hat.
Ist es nun anmaßend, dass John seinem Bruder in einem abschließenden inneren Monolog Gedankenfetzen in den Mund legt beziehungsweise durchs Hirn rauschen lässt? Nein, denn sie sind das Ergebnis einer ruhelosen, jahrelangen Suche, getragen von viel Einfühlungsvermögen und gestützt von Unmengen an Wissen, das sich Niven wie unzählige Hinterbliebene notgedrungen über psychische Leiden und Suizid im allgemeinen und über die Lebens- und Todesumstände seines Bruders im Besonderen angeeignet hat. Dieser Versuch einer Annäherung – bis zur imaginierten postumen Aussöhnung mit dem früh verstorbenen Vater – ist ein letzter Liebesdienst.
Und all jene, die jemanden an den Suizid verloren haben, lässt John Niven an einer tröstlichen Erkenntnis teilhaben: »Du begreifst«, dass die Fragen »niemals aufhören werden, dich zu quälen und das Beste, was du tun kannst, darin besteht, dich ihnen zu stellen (…) Dann wird aus dem Chor der Selbstvorwürfe eine vielstimmige Bestätigung, dass ein Teil dieses Menschen in dir weiterlebt.«
John Niven: O Brother. A. d. schott. Engl. v. Stephan Glietsch. btb, 400 S., geb., 24 €.
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