Indonesien: Machtspiele und Menschenrechte

In Jakarta kämpfen lokale Zusammenschlüsse von städtischen Armen gegen Vertreibung und für humane Wohnverhältnisse

  • Thomas Berger, Jakarta
  • Lesedauer: 9 Min.
Wohnen als Menschenrecht ist in Indonesien nicht gesichert: Behausung in einem Elendsviertel in der Hauptstadt Jakarta.
Wohnen als Menschenrecht ist in Indonesien nicht gesichert: Behausung in einem Elendsviertel in der Hauptstadt Jakarta.

Wem gehört die Stadt? Die Frage steht deutlich im Raum, wenn man als Einheimischer oder Besucher durch die Straßen und Viertel von Jakarta fährt, den Blick von der Bahn aus über das Panorama des Zentrums der indonesischen Megacity mit ihren insgesamt wohl um die zwölf Millionen Einwohner*innen schweifen lässt oder beim Spaziergang auf so manche Baustelle schaut. Ja, es wird nach wie vor viel gebaut in Jakarta, und die Innenstadt hat ihr Gesicht in den vergangenen paar Jahren deutlich verändert. Teilweise reiht sich eine riesige Mall an die andere, und ein Stück weiter wachsen schon wieder drei Punkthochhäuser in den Himmel, drehen sich die Baukräne, wird an der Fassade gewerkelt. Wo sich große Hotels, Einkaufsparadiese für die Reichen und Nobelrestaurants für alles ab der oberen Mittelklasse aufwärts ausbreiten, bleibt immer weniger Platz für jene, die mit ihrem kärglichen Einkommen ohnehin nur mühsam über die Runden kommen.

Wohnen ist ein Menschenrecht

»Housing is a human right« prangt in englischer Sprache auf dem T-Shirt von Andi, einem Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation Urban Poor Consortium (UPC) – Wohnen ist ein Menschenrecht. Sein Kollege Gugun Mohammad hat derweil in einem provisorisch wirkenden Büro Platz genommen, die Kaffeetasse auf den Tisch gestellt und sich eine Zigarette angezündet. Der große, eher spärlich eingerichtete Raum liegt am Rande eines Grundstücks im Norden der Stadt, unweit des benachbarten großen Hafenareals. Im Mittelteil des Geländes prangt ein neues Doppelgebäude, das Kampung Akuarium. »Kampung« ist das indonesische Wort für Dorf, im urbanen Kontext der Großstädte eine lokale Gemeinschaft in einem Stadtviertel. Und Gugun blickt nicht ohne berechtigten Stolz auf den mehrstöckigen Bau mit der hellen Fassade gleich nebenan. »Ursprünglich 93 Familien sind hier eingezogen«, erzählt er, »inzwischen haben sogar 110 eine Wohnung gefunden.«

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Wenn man weiß, wie die Wohnverhältnisse früher waren, sichtbar noch beim Blick auf das Nachbarviertel jenseits des Wasserarms mit der darüberführenden Brücke, wirkt so eine Bleibe in diesem Neubau wie ein Lottogewinn. Aber es war auch ein zähes Ringen, bis es so weit gekommen ist. 2016 sei die alte Siedlung auf dieser Halbinsel plattgemacht worden; 2019 wurde mit den Arbeiten am heutigen Gebäude begonnen, das im Laufe des Jahres 2022 fertiggestellt wurde. In der Zeit dazwischen: Kampf für die Rechte der Bewohner*innen, mühsame Debatten, aber schließlich auch Verständnis und eine Lösung, die nicht nur Gugun Mohammad als vorbildhaft einstuft.

Genossenschaften stärken die Wehrhaftigkeit

»Das war hier das erste Mal in Jakarta, dass so etwas in dieser Form entstanden ist«, betont er beinahe feierlich. Auch wenn es inzwischen stadtweit schon drei Kampungs nach diesem Muster gibt, von den Menschen erstritten, von der lokalen Regierung im Bau finanziert. Bei einem vierten Gebäude sei der neue Gouverneur aber gerade dabei, dieses umzuwidmen, um die Wohnungen an Leute mit Geld verhökern zu können – da zeichnen sich weitere Kämpfe ab, um das vielleicht noch zu verhindern, wie er anmerkt. UPC, bereits 1997 gegründet und in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter gewachsen, ist ein Netzwerk von Aktivist*innen. Das Kampung ist genossenschaftlich organisiert. Die Kooperative ist der Betreiber des Wohnblocks, und gemäß dem 2022 geschlossenen Vertrag mit der Stadt gehen fünf Jahre später, also 2027, auch die Eigentumsrechte endgültig auf den Zusammenschluss der Bewohner*innen über.

Wie viele städtische Arme es in Jakarta gibt? Andi und Gugun werfen sich einen schnellen Blick zu. Rund 400 000 sollen es laut den amtlichen Angaben 2023 gewesen sein. »Aber das ist eben nur die offizielle Zahl«, wie Gugun gleich nachschiebt, abhängig von eher willkürlich gezogenen statistischen Grenzlinien. Laut der Regierungseinschätzung gelte als arm, wer als Einzelperson im Monat weniger als 700 000 Rupien zur Verfügung hat, das sind umgerechnet derzeit knapp 42 Euro. Oder zwei Millionen Rupien als Familie. »Doch wer hier in der Stadt zusammen nur zwei Millionen hat, der ist wirklich richtig mies dran«, ordnet der UPC-Aktivist mit ernstem Gesicht ein. Eigentlich müsste die Grenze, vom Preisniveau der Metropole ausgehend, um einiges höher liegen. »Doch an dieser Einstufung will niemand etwas ändern, weil dann die Politik mit noch mehr Armut ja schlechter dastehen würde.«

Arme bekommen keine staatliche Unterstützung

Die zweite Kategorie der Geringverdiener*innen reiche bis acht Millionen Rupien Familieneinkommen, rund 480 Euro. An diese würden zum Beispiel laut den Regularien auch staatliche Kredite für Wohnungsbau ausgereicht. »Faktisch erhält diese Hilfe aber niemand, der nicht wenigstens fünf Millionen hat. Bei allen, die darunter bleiben, hat man Angst, dass sie das Geld nicht zurückzahlen können.« Den Betrag selbst würden die Familien auch gar nicht zu Gesicht bekommen, die Auszahlung laufe »direkt an die Banken, den Planer, die ausführende Baufirma«.

Die ganz Armen können von Unterstützung nur träumen. Deswegen, betont Gugun, sei es wichtig, dass so ein Kampung, eine lokale Community, gewissermaßen wie eine Großfamilie funktioniere. Solidarität untereinander spiele eine große Rolle, und nur dank gegenseitiger Hilfe in der Nachbarschaft und vielfältiger Vernetzung kämen die Menschen überhaupt irgendwie zurecht.

Ein kleiner Laden, wo es auch den Kaffee und mehr gibt, liegt im Erdgeschoss des Kampung Akuarium, davor steht ein Warung, ein Ministraßenlokal, wo Nasi Goreng und einige andere Gerichte angeboten werden. Wer ins Nachbarviertel hinüberläuft, trifft dort auch noch auf Friseure, Werkstätten und andere Minigewerbe. Es sei kein großes Ding, beispielsweise eine Garküche aufzumachen, erklärt Gugun. Da würden Verwandte und Freunde helfen, die Grundinvestition sei eher gering, bürokratischen Aufwand gebe es nicht. »Und wenn eine Idee zum Einkommenserwerb dieser Art nicht aufgeht, probiert man halt etwas anderes.« Im günstigen Fall reicht das, was das Geschäft abwirft, um zumindest die laufenden Kosten der Familie von Monat zu Monat zu decken. Selten bleibt aber noch etwas übrig, um es auf die hohe Kante zu legen.

Unter anderem da setzt UPC an. Gemeinschaftsstrukturen stärken und weiterentwickeln, Selbstbewusstsein aufbauen, zusammen etwas Geld ansparen, das sind die drei Säulen des Wirkens der Aktivist*innenen zum Aufbau der Kampung-Kooperativen. Ein manchmal durchaus mühsamer Weg. Erst recht im Umgang mit den Behörden. »2014 bis 2017 war hier die dunkelste Zeit«, blickt Gugun zurück auf die personellen Veränderungen an der Spitze der Stadtregierung. »Der damalige Gouverneur von Jakarta, Basuki alias Ahok, hat die Armen nur als Belastung für die Stadt gesehen, da gab es besonders viele Vertreibungen. Und er war nicht einmal bereit, sich andere Standpunkte anzuhören und irgendwie in Dialog zu treten.« Da hätten nicht einmal Protestaktionen etwas bewirkt. Zwar sei auch schon dessen Amtsvorgänger mit der Immobilienbranche verstrickt gewesen, aber schlimmer als unter Ahok sei es kaum vorstellbar.

Nur fünf Jahre sozialer Wohnungsbau

Mit dem Amtsantritt von Anies Baswedan 2017 habe sich das grundlegend geändert. Plötzlich habe man auf der anderen Seite einen Dialogpartner gehabt, mit dem man vernünftig reden, gemeinsam Lösungen entwickeln konnte. Natürlich sei auch der Druck von der Straße wichtig gewesen. Aber der bis 2022 amtierende Ex-Governeur, der bei den Wahlen Mitte Februar einer der drei Präsidentschaftskandidaten war und am Ende klar dem Wahlsieger Prabowo Subianto unterlag, habe eben auch ein offenes Ohr gehabt. Zudem sei in seiner Amtszeit erstmals im Stadthaushalt ein eigenes Budget für sozialen Wohnungsbau aufgelegt worden. Anies Baswedan habe auch versucht, einige Flächen in öffentlicher Hand zu halten, statt auch diese an die Immobilienspekulanten und die Baumafia fallen zu lassen.

»Das Grundproblem bei uns: Eine Legislaturperiode dauert fünf Jahre«, sagt Gugun. Das sei gerade bei Themen wie Wohnungsbau, wo es längere Planungs- und Umsetzungsprozesse für Vorhaben brauche, eine zu kurze Zeitpanne, um nachhaltig etwas zu bewegen. »Und für die meisten indonesischen Politiker gilt: Sie wollen nach einem Machtwechsel die Projekte ihrer Vorgänger keineswegs fortführen, auch wenn die gut sind.« So gehe es auch in Jakarta aktuell eher wieder abwärts. Denn der neue, von der Zentralregierung eingesetzte Gouverneur Heru Budi Hartono sei dabei, viele der bis 2022 unter Anies Baswedan erzielten Fortschritte zurückzudrehen.

Allerdings gebe es nunmehr Widerstand, eben durch die langjährige Arbeit, um das Selbstbewusstsein der Leute zu stärken. »Gerade früher war Armut ein Stigma«, so der UPC-Aktivist, der selbst aus so einer Community in einem anderen Stadtteil kommt. »Von offizieller Seite wurde man immer nur in eine Ecke gestellt: als ungebildet, potenziell kriminell, rechtlos und nicht dialogfähig. Doch wir haben mittlerweile viele Gruppen aufgebaut, die erhobenen Hauptes für ihre Rechte eintreten.«

Platz ist in der Stadt ein knappes Gut

Einfach sei dieser Überzeugungsprozess nicht. »Viele haben ihr ganz bescheidenes Zuhause auf vier mal fünf Metern. Und wer vielleicht sogar schon mehrere Male zuvor vertrieben wurde, der freut sich, wenn er auf diesen 20 Quadratmetern zumindest mal eine Weile Ruhe hat, will das nicht infrage stellen.« Doch gemeinsam sei man eben auch stärker als allein, mit den Kooperativen lasse sich allerhand erreichen. Gebraucht würden diese als starke Verhandlungspartner, die von der Stadtseite ernst genommen werden. Und um nicht nur kurzfristig Lösungen für drängende Probleme zu finden, sondern sich mit der lokalen Politik und Verwaltung über längerfristige Entwicklungshorizonte auszutauschen.

So sei Platz in der Stadt mittlerweile ein knappes Gut geworden: »Gerade hier im Norden Jakartas gibt es nur noch ganz wenige Flächen, die in öffentlicher Hand sind und wo vielleicht auch sozialer Wohnungsbau vorstellbar ist.« Gugun hält das neue Kampung Akuarium nicht nur für ein wichtiges Signal als eigenverwaltetes und bald auch ganz der Gemeinschaft gehörendes Projekt. Indem die Kooperative sich weiter selbst um den Erhalt der Wohnungen kümmere, belaste das Haus dann auch nicht mehr den städtischen Etat, der für Wartung und Reparaturen in bestehenden Mietobjekten bereits sieben Milliarden Rupien pro Jahr aufweise.

Die Anwohnenden in dieser armen Gegend Nord-Jakartas bedroht aber auch der fortschreitende Klimawandel. Gerade im Großraum des ehemaligen Batavia, wie Jakarta in der holländischen Kolonialzeit hieß, sinkt der Boden jährlich um mehrere Zentimeter ab. Das sei in Verbindung mit häufigeren Überflutungen eine zunehmende Gefahr, räumt Gugun ein. »Die Küstenabschnitte sind dem immer stärker ausgesetzt, und viele Menschen dort versuchen schon, ihre Häuser stärker zu befestigen.« Kamen die Fluten sonst in der Regel immer mit Vollmond, hielt das Hochwasser voriges Jahr streckenweise schon über drei Monate an, berichtet der UPC-Aktivist. Er und sein Team wollen weiter für menschenwürdiges Wohnen kämpfen.

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