Prekäre Wissenschaft: Eine Schar von Kanarienvögeln

Gibt es Perspektiven für Dauerstellen in der Wissenschaft oder bleibt sie ein »toxisches« Arbeitsumfeld?

Vogelfrei und doch gefangen: die hochqualifizierten Arbeitskräfte finden an deutschen Hochschulen oft ein »toxisches« Arbeitsumfeld vor
Vogelfrei und doch gefangen: die hochqualifizierten Arbeitskräfte finden an deutschen Hochschulen oft ein »toxisches« Arbeitsumfeld vor

Bergarbeiter nahmen damals Kanarienvögel mit in den Minenschacht, da diese wie ein Frühwarnsystem auf giftige Gase reagierten. Auf dem Jobmarkt gilt der Kanarienvogel mittlerweile als Metapher für diejenigen hochqualifizierten Arbeitskräfte, die rechtzeitig ein toxisches Arbeitsumfeld verlassen. Im Wissenschaftsbetrieb müsste man folglich auf ganze Schwärme von Kanarienvögeln stoßen.

Denn an den deutschen Hochschulen herrschen unsichere Arbeitsbedingungen und jede Menge Selbstausbeutung – bis die Mehrheit des akademischen Prekariats durch Zeitvertragsregelungen eh fallengelassen wird. Das ist seit Jahren unter dem Öffentlichkeitsdruck von Gewerkschaften und Kampagnen wie #ichbinhanna oder #profsfürhanna skandalisiert worden. Bisher aber schien die Attraktivität der akademischen Karriere davon unberührt, da sich ohnehin meist diejenigen darauf einlassen, die sich einen Lebensweg als Glücksspiel leisten können.

Die Bundesregierung hat die lang versprochene Nachbesserung Mitte März dann selbst ad absurdum geführt und die Situation noch einmal verschlimmert: Statt der bisherigen sechs Jahre, die man nach der Promotion bis zur Berufung auf eine Professur beschäftigt werden konnte, sind es nur noch vier Jahre. Falls man eine der raren Dauerstellen in fester Aussicht hätte, dann könnten noch zwei Jahre hinzugezählt werden.

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Solche Dauerstellen gibt es de facto kaum. Die Wahrscheinlichkeit, in der Wissenschaft eine entfristete Stelle zu bekommen, liegt derzeit bei zwölf Prozent, wie jüngst eine Studie zu alternativen Arbeitsmodellen in der deutschen Wissenschaft festhielt. Durch Laufbahnstellen nach dem Vorbild des Tenure-Track-Verfahrens oder festen Stellen für die Lehre ließe sich diesen Missständen effektiv begegnen.

Ende Februar stellte eine Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung bereits fest, dass die Mehrheit der Nachwuchswissenschaftler*innen gar keine Professur mehr anstreben würde. Was sollte diese überwältigende Mehrheit strukturell erzeugter Kanarienvögel denn realistischerweise auch sonst tun? Prompt wurde daher schon in größter Sorge um den nationalen Standort vor Fachkräftemangel gewarnt. Nicht zu Unrecht, denn etwa die Universität Oslo bewirbt ihre Stellen für internationale Wissenschaftler*innen nun schon mit jenem Hashtag #ichbinhanna, der in Deutschland zum Inbegriff der schlechten Arbeitsverhältnisse geworden ist.

Insgesamt scheint nun doch ein Umdenken einzusetzen: In Brandenburg wurde jüngst ein neues Hochschulgesetz beschlossen, das Dauerstellen zumindest in Aussicht stellt. Und in der Tarifrunde im Land Hessen hat Verdi nun tarifvertragliche Vorgaben für Entfristungen durchsetzen können. Dass erst unter wirtschaftlichem Existenzdruck überhaupt Bewegung in die Sache kommt – nach mehreren Jahren der Empörung – gibt zumindest einen Hinweis darauf, welche Kräfte in letzter Instanz auch an den Hochschulen wirken. Die Subjekte an den Universitäten sind eben nur der Ideologie nach vogelfreie Akademiker*innen. Real sind sie Lohnarbeitende.

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