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Kritik der neoliberalen Universität: »Nichts ist gut«
Vor 25 Jahren begann die Bologna-Reform und veränderte die Studienbedingungen grundlegend. Ein Frankfurter Kollektiv arbeitet die neue Normalität auf
Unter dem Schlagwort »Organisierte Halbbildung« habt ihr euch im Kollektiv seit knappen zwei Jahren mit den Studienbedingungen 25 Jahre nach der Bologna-Reform befasst. Wie kam es dazu?
Lukas: Für mich begann es als persönliche Auseinandersetzung. Meine Mutter war alleinerziehend, ich habe mein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt und mit Anfang 20 ein Studium begonnen. Relativ schnell merkte ich, dass die Eltern meiner Kommiliton*innen häufig Professor*innen oder Journalist*innen sind – und nicht Mechatroniker und Erzieherin, wie das recht klischeehaft noch in meiner Jugend der Fall war. Ich musste mich also sehr früh irgendwie zurechtfinden und dazu gehörte immer schon die Reflexion, was die Universität eigentlich für ein Ort ist und welche Machtstrukturen hier wirken. Mit dem Projekt »Organisierte Halbbildung« hat sich dann – auch in finanzieller Hinsicht – die Möglichkeit ergeben, diese Auseinandersetzung zu vertiefen. Zuerst haben sich ein paar Leute zusammengefunden, aus sehr unterschiedlichen Motiven heraus. Nach und nach wurde dann klar, dass viele andere sich auch mit den Studienbedingungen auseinandersetzen und sich ähnliche Fragen stellen. So kamen wir dazu, einen Sammelband mit kritischen Perspektiven auf die Studiensituation zu machen.
Johanna: Ich bin später zum Kollektiv dazugestoßen, nachdem ich zum Studieren nach Frankfurt gezogen war. Am Anfang meines Studiums stand für mich, wie viele andere auch, eine Politisierung. Ich habe die Krisen, in denen wir gesellschaftlich stecken, stärker wahrgenommen und hatte gleichzeitig das Gefühl, diese werden am Campus kaum thematisiert. Da drängte sich die Frage auf, wie zu dieser Diskrepanz kommen konnte, was überhaupt die Funktion der Universität in der Gesellschaft ist. Das hat natürlich mit den Fragen des Projekts »Organisierte Halbbildung« zusammengepasst.
Welche Fragen haben euch beschäftigt?
Lukas: In einem Beitrag des Sammelbands beschreibt Stephan Lessenich, dass man früher an allen Universitäten eigentlich ein recht gutes, grundständiges Studium auch mit kritischen Inhalten erhalten konnte. Meine erste Erfahrung im Masterstudium in Frankfurt war, dass ich mit meinem Bachelorstudium an einer anderen Universität Zeit vergeudet hatte. Inhaltlich bewegte sich das Studium auf einem ganz anderen Niveau.
Johanna Fankel studiert Politische Theorie an der Goethe-Universität in Frankfurt und ist neben ihrem Studium in verschiedenen Bündnissen und in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv.
Lukas Geisler lebt in Frankfurt am Main und arbeitet in der Schnittstelle von Aktivismus und Wissensproduktion zum Universitätssystem, der Klimakrise und kritischer Theorie.
Dabei sollte die Bologna-Reform die Studienbedingungen ja gerade überregional vereinheitlichen …
Lukas: Dem widerspricht aber der Drang nach und die Produktion von Exzellenz. Was ich selbst erlebt habe und was man an sehr vielen Stellen merkt: Die Studierenden spielen kaum eine Rolle, man wird einfach so durchgeschleust.
Johanna: Genau, es geht nicht nur um die Kritik der konkreten Studieninhalte, sondern auch darum, wie die Universität generell aufgebaut ist: Was ist unsere Rolle als Studierende? Dürfen wir mitbestimmen und den Raum mitgestalten? Und sind diese ganzen prekären Bedingungen, die wir vorfinden, veränderbar?
Was sind denn die Bedingungen an den Universitäten? Worin besteht die organisierte Halbbildung?
Johanna: Die Universitäten leiden einerseits an Unterfinanzierung, andererseits unter der zunehmenden Ökonomisierung und der Ausrichtung nach Effizienz und marktwirtschaftlicher Verwertbarkeit. Das hängt miteinander zusammen, denn wegen der benötigten Drittmittel wird Wissenschaft immer öfter auf die Bedürfnisse des Marktes zugeschnitten. Gleichzeitig fehlt es überall an Geld, an Räumen und Kapazitäten. Der aktuelle Haushalt und die Kürzungen verschärfen diese Dynamik noch einmal. Und Studierende und Lehrende sind aufgrund dieser Austerität und des hohen Leistungsdrucks oft strukturell überlastet. Dazu kommen Wohnungsnot, Inflation, mehrere Nebenjobs und psychische Probleme. Die Bedingungen sind schwierig – was nicht heißt, dass sie nicht noch schlechter sein könnten. Aber es könnte auch deutlich, deutlich besser sein.
Lukas: Was wir als organisierte Halbbildung beschreiben, betrifft drei Ebenen, wie der Beitrag von Lisa Marie Münster im Band darstellt. Erstens ist das die Struktur und Ordnung der Universität. Es sind zweitens der Inhalt und die Gestaltung des Studiums. Und drittens gehören auch wir, also die Studierenden, dazu. Es ist nicht so einfach, diese Gemengelage auf einen guten Begriff zu bringen.
Für die kommende Konferenz zur »Organisierten Halbbildung« nennt ihr diesen Zustand »neoliberale Universität«. Trifft dieser Begriff die Entwicklungstendenz an den Universitäten?
Lukas: Wie gesagt, das ist eine schwierige Frage. Dazu müssten wir erst einmal diskutieren, wie wir die gesellschaftliche Hegemonie der letzten 30 Jahre fassen können und ob Neoliberalismus dafür ein adäquater Begriff ist. Politisch ergibt der Begriff Sinn, denn er ist vielen Leuten geläufig als Bezeichnung für Austerität und Prekarisierung. Ob er auch als analytische Bestimmung zutrifft, muss sich zeigen.
Johanna: Natürlich muss man die Bologna-Reform und die Umstrukturierung der Hochschulen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen des Bildungswesens und des Kapitalismus generell betrachten. Es ist keine Reform, die aus dem Nichts gekommen ist. Aber ich glaube schon, dass Bologna auch eine Zäsur war. Die Einführung von Bachelor- und Masterabschlüssen hat zu einer stärkeren Modularisierung und Standardisierung des Studiums geführt, das stärker auf marktfähigen Kompetenzen und einem schnelleren Arbeitsmarkteintritt von Studierenden ausgerichtet wurde. Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit treten immer mehr in den Vordergrund – und die Universität als Ort von idealerweise selbstbestimmtem Lernen, kritischem Denken und auch Widerstand tritt in den Hintergrund.
Welches eigene Ideal von Bildung legt ihr eurer Kritik denn eigentlich zugrunde?
Johanna: Wir wollen mit unserer Kritik jedenfalls nicht irgendeine Vergangenheit romantisch verklären. Uns ist natürlich klar, dass die bürgerliche Gesellschaft immer versucht hat, kritisches Wissen an den Rand zu drängen und dass Universität und Bildung seit ihrem Beginn in Herrschaftsverhältnisse verwickelt sind. Diesen Zusammenhang wollen wir verstehen und diskutieren. Dabei müssen auch bürgerliche Bildungsideale hinterfragt werden. Diese Diskussion zielen letztlich auf die Frage ab, wo es hingehen soll, was für eine Universität und welche Bildung wir eigentlich wollen. Um das zu beantworten, müssen wir nicht völlig von vorne anfangen. Vieles ist bereits von kritischen Theoretiker*innen und Aktivist*innen gedacht und praktiziert worden.
Lukas: Max Horkheimer hat in einer seiner Immatrikulationsreden mit dem Titel »Begriff der Bildung«, die er als Rektor der Universität Frankfurt 1952 vor Studierenden hielt, betont, dass Bildung nicht nur individualistisch verstanden werden könne. Selbstermächtigung durch Bildung sei für eine einzelne Person gar nicht möglich ist. Es gehe also nicht nur darum, etwas aus sich zu machen, sondern sich gemeinsam mit anderen der Sache ein Stück weit hingeben zu können. An der Universität, so die Vorstellung, könne im Kleinen etwas über das Bestehende hinaus kollektiv gelebt werden. Aber dieses Bildungsideal traf früher schon kaum zu, oder vielleicht nur für wenige. Und auch heute ist es so, dass nur wenige das Privileg haben, sich um ihre Existenzbedingungen im Studium keine Sorgen machen zu müssen. Gleichzeitig haben wir seit den 1960er Jahren eine Bildungsexpansion erlebt, eine Entwicklung hin zur Massenuniversität. Mittlerweile studiert etwa die Hälfte eines Jahrgangs. All das müssen wir in seiner Widersprüchlichkeit begreifen lernen.
Vom 17. bis 19. Oktober 2024 findet
in Frankfurt am Main die Tagung »Organisierte Halbbildung.
Konferenz zur Kritik der neoliberalen Universität« statt. Die Konferenz
soll die Auseinandersetzung mit
der Umstrukturierung der Hochschullandschaft der letzten
25 Jahre fortführen, die das Kollektiv mit dem gleichnamigen Sammelband begonnen hatte. Autor*innen werden ihre Beiträge, Thesen und Themen vorstellen, ergänzt durch ein Rahmenprogram von Workshops, Podien, Performances und Vorträgen. Mit dabei sind u.a. Bafta Sarbo, Alex Demirović oder Wolfgang M. Schmitt. Das »nd« ist Medienpartner der Konferenz. www.ifs.uni-frankfurt.de
Bedeutet die Entwicklung, zu der letztendlich auch Bologna gehörte, vor dem Hintergund der steigenden Studierendenzahlen nicht auch eine Demokratisierung der Hochschulen?
Johanna: Dass die Universitätsbildung weniger exklusiv ist und mehr Menschen zugänglich, ist eine begrüßenswerte Entwicklung. Das begann aber schon weit vor Bologna. Die Frage ist, was daraus folgt. Haben wir mit mehr Studierenden einfach noch krasseren Konkurrenzdruck, noch stärkere Auslese? Oder entwickelt sich der Anspruch, dass Bildung eigentlich allen Menschen zusteht – und wenn ja, wie organisieren wir das? Das meinte ich eben mit der Zäsur: Offensichtlich veränderte sich mit der Bologna-Reform auch die Funktionsbestimmung von Bildung in der Gesellschaft, aber diese Neuausrichtung wurde nach Effizienz- und Wirtschaftlichkeitskriterien gestaltet. Bildung wird oft einfach gleichgesetzt mit ökonomisch verwertbaren Qualifikationen. Studierende werden möglichst schnell fit für den Arbeitsmarkt gemacht und sollen Kompetenzen erwerben, dabei wird forciert, dass man schon an der Universität verstärkt in Konkurrenz zueinander steht. Das ist eine falsche Gleichsetzung von Emanzipation mit Karriere, von gesellschaftlichem Wohl und Marktwirtschaft.
Lukas: Im Endeffekt werden die Studierenden als unternehmerisches Selbst, als Kund*innen von Bildung und als Einzelkämpfer*innen im Bildungssystem angerufen. Aber das stimmt nicht. Niemand studiert alleine.
Also bemängelt ihr, dass es eben keinen demokratischen Prozess der Umgestaltung gab?
Johanna: Ja. Ein Verständigungsprozeß unter Studierenden und Arbeitenden an der Universität und innerhalb der Gesellschaft insgesamt, was Bildung und Universität sein sollen, hat nicht stattgefunden und findet heute nicht statt. Das wollen wir diskutieren – sowohl auf der Konferenz als auch darüber hinaus. Und zwar nicht nur mit jenen, die jetzt schon an den Universitäten sitzen. Denn die Frage, wie wir als Gesellschaft Bildung, Universitäten und Schulen organisieren wollen, geht eigentlich alle an. Und diese Verständigung ist zugleich eine Möglichkeit, wie man die Vereinzelung überwinden kann.
War der Sammelband »Organisierte Halbbildung« eine solche Maßnahme gegen die Vereinzelung?
Lukas: Grundlegend ging es um Selbstverständigung und um die Sichtbarmachung der Probleme. Wir wollten in die Studierendenschaft hineinhören und nach deren Unbehagen fragen. Dafür hatten wir einen offenen Call for Papers verschickt und bekamen an die 150 Einsendungen mit Vorschlägen für Artikel zurück. Die Beiträge waren sehr verschieden, berichteten von lokalen Begebenheiten oder über die Lebensrealitäten von Studierenden – die allein deshalb sehr unterschiedlich sind, weil sie ungleiche Voraussetzungen haben. Es war der Versuch einer Momentaufnahme studentischer Perspektiven. Und ja, ich glaube, es brennt an allen Ecken. Es gibt sehr viel Unzufriedenheit. Nichts ist gut.
Wie seid ihr dann vom Sammelband zur Organisation der Konferenz gekommen?
Johanna: Die Idee zu einer Konferenz stand relativ früh im Raum. Dafür gab es verschiedene Gründe. Auf jeden Fall waren wir interessiert daran, die Autor*innen sowie verschiedene politische Akteur*innen nach Frankfurt einzuladen, um in Austausch zu treten und uns zu vernetzen. Außerdem ist während der Arbeit am Sammelband klar geworden, dass es inhaltliche Leerstellen gibt, auf die wir während der Konferenz den Blick richten wollen. Letztendlich ist uns auch bewusst, das Wissen über die Verhältnisse allein keine Veränderungen bringt. Aber wir haben die Hoffnung, von der Diskussion ins Handeln und in Organisierung zu kommen.
Lukas: Viele Organisierungsversuche existieren ja bereits, aber sie sind oft lokal auf einzelne Universitäten begrenzt. Wir versuchen daher auch, möglichst viele Leute aus verschiedenen Städten einzuladen, die von ihrer Praxis vor Ort erzählen. Aber ja, wir verbinden mit der Konferenz einen ganzen Blumenstrauß an Anliegen, zwischen denen es sicherlich auch Spannungen gibt. Aber wir hoffen, dass die Veranstaltung dennoch gelingt.
Welche bestehenden Formen der Organisierung und auch Mobilisierung gibt es denn im Hochschulbereich?
Johanna: Es gibt viele Studierende und auch Gruppen, die die aktuelle Situation satthaben. Die Kampagn, die sich für einen Tarifvertrag für studentische Beschäftigte einsetzt, ist ein Beispiel. Aber auch Fachschaften, Hochschulgruppen und andere politische Bewegungen sind an Universitäten aktiv, wie #wirfahrenzusammen, Fridays for Future oder End Fossil: Occupy!. Hier kommen Gewerkschaftsarbeit und kritische Bildungsarbeit zusammen mit Vollversammlungen, Kundgebungen oder Hörsaalbesetzungen. In Frankfurt und anderen Städten gibt es zum Beispiel auch die Zivilklausel-Initiative, die sich gegen die Militarisierung der Forschung richtet.
Lukas: Die Kampagne #IchbinHannah ist ein weiteres Beispiel, hier geht es um Arbeitsbedingungen und teils auch um richtige Arbeitskämpfe an der Hochschule. Aber man muss auch nüchtern festhalten: Wirkliche Massenproteste für grundlegende Änderungen im Hochschulsystem sind in weiter Ferne.
Das Beispiel #IchbinHannah zeigt auch ein Problem: Es werden die prekären Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft kritisiert, aber zugleich der Eindruck erweckt, befristete Stellen und Unsicherheit wären nur so etwas wie ein Versäumnis der Bildungspolitik. Der These organisierter Halbbildung nach müsste man ja erkennen, dass diese prekären Bedingungen System haben.
Lukas: Solche Fragen müssen wir auf der Konferenz klären. Zu dem Diskussionspanel »Arbeitskämpfe an der Universität!« haben wir etwa Kristin Eichhorn, eine der Initiator*innen von #IchbinHannah, und den Gewerkschafter Andreas Keller eingeladen. Hier wollen wir auch diskutieren, wie sehr in der Auseinandersetzungen auf Klassenkompromisse und gewissermaßen kleine Formen gesetzt wird. Gleichzeitig bekommen wir ja nicht einmal diese kleinteiligen Verbesserungen, die Wissenschaftszeitvertragsregelung wurde trotz Protesten verschärft und es wird weiterhin an Bildung gekürzt.
Johanna: Ja, das ist eine wichtige Frage, die wahrscheinlich auch im Zentrum von vielen Überlegungen auf der Konferenz stehen wird: Wie gelingt es, an die konkreten Alltagsproblemen von Studierenden und Lehrenden anzuknüpfen und ganz akut um eine Verbesserung zu kämpfen, dabei aber gleichzeitig darauf aufmerksam zu machen, dass es um eine größere Auseinandersetzung geht. Die Gruppen, die ich eben genannt habe, positionieren sich ja zusätzlich auch gegen Krieg, Klimakrise, gegen Armut, für eine solidarische Stadtgestaltung oder öffentliche Daseinsvorsorge. Es ist die Frage, wie man diese Kämpfe verknüpft, zusammen denken kann und ausweitet.
Organisierte – also strukturell angelegte – Halbbildung würde ja auch bedeuten, dass nicht nur kritische Inhalte ausgespart werden, sondern es betrifft auch die Möglichkeitsbedingungen von Kritik. Studierende sind nur kurz und unter Zeit- und Leistungsdruck an den Universitäten – wie sollen sie Raum für Reflexion ihrer Situation finden, geschweige denn Strukturen aufbauen in dieser Zeit?
Lukas: Das stimmt, und auch wir haben selbstverständlich keine privilegierte Position, aus der wir mit Sammelband und Konferenz Kritik üben. Vielleicht müssen wir daher versuchen, den Kritikbegriff zu weiten. Auch das Handeln von Studierenden kann eine Form der Kritik sein. In einem Beitrag des Sammelbands wird etwa das Schummeln als individuelle Widerstandspraktik begriffen. Wir können eine solche Praxis der Kritik in vielen Belangen sehen, angefangen bei der hohen Anzahl von Studienabbrüchen bis zum Fernbleiben von Seminaren und Vorlesungen. Die Kritik an den Zuständen ist also da, sie findet nur nicht immer einen intellektuellen oder politischen Ausdruck. Das ist also auch ein Anliegen der Konferenz, dieser Tatsache einen politischen Ausdruck zu verleihen, der Kritik eine Form zu geben.
Aber gerade die Beispiele von Schummeln oder Schwänzen zeigen doch, wie Kritik selbst schon die Form halbgebildeter Zurichtung angenommen hat. Die Kehrseite des subversiven Hindurchmanövrierens ist ja, dass die Bedingungen bestehen bleiben…
Lukas: Wir müssen mit diesen Widersprüchen leben lernen. Wir bewegen uns ja immer in den Verhältnissen, können nicht einfach aussteigen. Und auch wir, die »Politisierten«, die einen kritischen Sammelband herausgeben und eine Konferenz organisieren, sind Teil der organisierten Halbbildung. Das müssen wir aushalten lernen.
Und was macht ihr mit dieser Einsicht?
Johanna: Neben dem Versuch, zusammen Kritik zu üben, hat die gemeinsame Reflexion auch einen weiteren Sinn: Wir haben erlebt, dass es so viel Unzufriedenheit mit den Verhältnissen gibt – an der Universität aber auch darüber hinaus. Viele Leute wollen vielleicht sogar etwas verändern, aber es fehlt ihnen die Erfahrung, dass die Dinge überhaupt veränderbar sind. Daher müssen wir diese Brüche ausfindig machen, damit wir merken, dass die Missstände kein individuelles Schicksal sind, sondern eine kollektive Erfahrung – und dass man kollektiv auch etwas daran ändern kann.
Lukas: Wir alle stecken in diesen Verhältnissen und suchen nach Auswegen. Wir sind also nicht alleine. Und wir müssen einfach versuchen, diese existierenden Nischen zu nutzen, die Brüche und Räume, die sich auftun. Denn manchmal ergeben sich daraus Konstellationen, in denen etwas Neues möglich wird, was vorher vielleicht nicht einmal denkbar war. Ob das nun die großen Proteste während des bundesweiten Bildungsstreiks von 2009 sind oder ganz andere weltgeschichtliche Ereignisse – es kommen doch immer wieder Gelegenheiten, die man ergreifen kann. Darauf können wir nicht gezielt hinarbeiten, aber man kann versuchen, sich bewusst zu machen, dass das passieren kann. Die Universitäten und das Bildungssystem sind momentan durch viele Seiten bedrängt, von autoritären Tendenzen, aber auch von bürgerlicher Seite, wenn etwa kritischen Wissenschaftler*innen Fördergelder entzogen werden sollen. Momentan geht es überhaupt nicht in eine gute Richtung. Aber das kann sich auch wieder ändern – und wir können hoffentlich etwas dazu beitragen.
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