»In der Arbeit handeln wir die Gestaltung der Gesellschaft aus«

Von den Chicagoer Schlachthöfen zum Klimawandel. Simon Schaupp erklärt den Zusammenhang von Gewerkschaftskämpfen und Ökologie

  • Interview: Raul Zelik
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Chicagoer Schlachthöfe – das erste industrielle Fließbandsystem
Die Chicagoer Schlachthöfe – das erste industrielle Fließbandsystem

In Ihrem Buch »Stoffwechselpolitik« geht es darum, dass sich soziale und ökologische Prozesse nicht voneinander trennen lassen. Sie veranschaulichen das am Beispiel des US-Mittelwestens der 1930er Jahre.

Ja. Nachdem die europäischen Siedler sowohl die Bisons als auch die Indigenen weitgehend ausgerottet hatten, kam es dort zu einer Industrialisierung der Fleischwirtschaft. Die Prärie wurde umgepflügt, die Landwirte bauten im großen Stil Futtermais an. Es kam zu einer starken Bodenerosion und schließlich zu gewaltigen Sandstürmen, den so genannten dust bowls, die den Himmel über den USA zeitweise verdunkelten. Aufgrund der Missernten verloren Hunderttausende Bauern ihre Höfe an die Banken und mussten als Landarbeiter Richtung Westen migrieren. Die Umweltkrise schlug in eine soziale Krise um.

Aber Sie schreiben auch, dass der Kapitalismus das schon bald wieder einfing. Mithilfe von Kunstdünger griff man einfach noch massiver in die natürlichen Stoffwechselkreisläufe ein.

Richtig. Die Bodenproduktivität stieg – dafür brauchte man allerdings noch mehr Kapital.

Bei der Entwicklung der Landwirtschaft in den USA gab es drei entscheidende Prozesse: Erstens die Motorisierung, zweitens die Verbreitung von Pestiziden, die Monokulturen überhaupt erst möglich machten, und schließlich die Haber-Bosch-Methode, also die Herstellung von Kunstdünger. Bis dahin war die Landwirtschaft an die Stoffkreisläufe des Bodens gefesselt gewesen. Jetzt zog man den Stickstoff aus der Luft.

Das Problem beim Kunstdünger allerdings ist, dass für seine Herstellung extrem viel Energie benötigt wird. So betrachtet ist die industrielle Landwirtschaft sehr ineffizient. Mit einer Kalorie Energie werden heute nur 2,8 Kalorien Mais produziert; bei den traditionellen Anbaumethoden der Indigenen ist es sehr viel mehr. Man kann das als »Paradox der Nutzbarmachung« bezeichnen: Die Techniken zur Effizienzsteigerung unterlaufen sich selbst.

Trotzdem wurden die Lebensmittel billiger …

Das hat mit dem Siegeszug des Erdöls zu tun. Die Kohleförderung ist arbeitsintensiv, und dementsprechend stiegen die Lohnkosten immer mit dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum. Durch das Öl wurde das entkoppelt: Wenn ein Vorkommen einmal erschlossen war, sprudelte es weiter. Die energetische Ineffizienz wird von der herrschenden ökonomischen Rationalität kaum erfasst.

Sie interessieren sich für das Verhältnis von Arbeit, Klassen- und Naturverhältnissen und verwenden dafür den Begriff »Stoffwechsel«. Der stammt ursprünglich aus den Naturwissenschaften, wo er sich auf den Austausch zwischen einem Organismus und seiner Umwelt bezieht. Karl Marx begann den Begriff auf die Gesellschaft anzuwenden. Warum spielt er heute in den Umweltdebatten wieder eine so große Rolle?

Bei Marx heißt es, dass wir die Umwelt in unserem Arbeitsprozess überhaupt erst hervorbringen. Das bedeutet, jede Arbeitspolitik ist eigentlich auch Umweltpolitik, denn jede Arbeit hat über ihren Stoffwechsel einen Naturbezug. Bei den Ökomarxist*innen wird viel über den »Riss im Stoffwechsel« diskutiert: Das Kapital unterbricht die Stoffkreisläufe und erschöpft die Natur. Meistens bleibt das allerdings auf einer Makroebene. Die Arbeit, die bei Marx im Mittelpunkt steht, taucht erstaunlicherweise kaum auf.

Der Begriff des Stoffwechsels ist zudem aber auch aus einer philosophischen Perspektive interessant. Er betont gleichzeitig Einheit und Trennung von Natur und Gesellschaft. In der akademischen Debatte gibt es normalerweise zwei Lager: Die einen unterscheiden deutlich zwischen Natur und Gesellschaft, die anderen betonen, dass auch Menschen Natur sind und die begriffliche Trennung deshalb bereits Teil des Problems ist.

Ich denke, dass beide Ansätze ungeeignet sind, um die ökologische Krise zu verstehen und zu bearbeiten. Bei Marx ist der menschliche Körper Teil der Natur, weshalb die Natur im Stoffwechsel gewissermaßen auf sich selbst zurückwirkt. Aber dies geschieht vermittelt über kapitalistische Institutionen, die wir nicht einfach als »natürlich« verstehen dürfen.

Und worauf wollen Sie mit der »Politik« des Stoffwechsels hinaus?

Dass Arbeit nie nur ein Prozess zur Herstellung von Gütern und Dienstleistungen ist, sondern immer auch eine politische Aushandlung. In der Arbeit handeln wir die Gestaltung unserer Gesellschaft aus.

Sie beschreiben den Chicagoer Schlachthof, über den Bertolt Brecht sein berühmtes Theaterstück schrieb, als Paradebeispiel für die Verschränkung von Arbeit und Naturverhältnissen.

Ab den 1860er Jahren entsteht dort die erste Fließbandfabrik. Gewöhnlich verbindet man die ja mit der Automobilproduktion des 20. Jahrhunderts. Aber Henry Ford schreibt in seiner Autobiografie, dass er sich das System bei den Schlachtfabriken in Chicago abgeschaut habe.

Für die Entwicklung des Schlachterhandwerks gab es naturstoffliche Grenzen. Die Unternehmen strebten einen Skaleneffekt an, wollten also möglichst große Mengen ihres Produkts auf einmal herstellen. Doch im Unterschied zu anderen Waren verdirbt Fleisch sehr schnell. Das Fließband ermöglichte die Zerlegung und Beschleunigung des Schlachtprozesses. Bemerkenswerterweise verlieh es den Beschäftigten große Handlungsmacht, denn wenn sie die Produktionskette an irgendeiner Stelle unterbrachen, entstanden sofort hohe Kosten. Um das zu verhindern, bauten die Unternehmen ihre Kühlsysteme aus. Sie erweiterten das Eisenbahnnetz, um große Mengen Eis heranzuschaffen.

Sie verwenden den Begriff der »Autonomie«, mit dem die Operaisten, italienische Marxisten der 1960er Jahre, die Handlungsmacht der Arbeit kenntlich machen wollten. Die »Autonomie der Arbeit« war die Fähigkeit der Arbeiter*innen, sich ihrer Nutzbarmachung zu entziehen. Meinen Sie etwas Ähnliches, wenn Sie von der »Autonomie der Natur« sprechen?

Ich behaupte, dass man das weitgehend parallel verstehen kann. Das Kapital muss nicht nur die Arbeit, sondern auch die Natur nutzbar machen. Dieser Prozess ist nie völlig abgeschlossen: Wir Menschen entziehen uns der Kontrolle, und auch die Natur bleibt widerspenstig. In gewisser Hinsicht wirkt sich die Autonomie der Natur umso stärker aus, je weiter ihre Nutzbarmachung voranschreitet. Der wesentliche Unterschied zwischen Arbeit und Natur besteht natürlich darin, dass die Natur nicht emanzipatorisch handeln kann.

Krisen haben den Kapitalismus schon immer begleitet. Wenn neu zugewanderte Arbeiter zu widerspenstig waren, hat man sie solange zu Arbeitskräften erzogen, bis sie sich an die Bedürfnisse des Kapitals angepasst hatten. Warum sollte die »Autonomie der Natur« schwieriger zu bearbeiten sein als die der Arbeit?

Der Klimawandel ist ein dramatisches Beispiel dafür, welche Folgen die Nutzbarmachung der Natur nach sich zieht. Ob es eine »finale Krise« des Kapitalismus sein wird, wage ich nicht zu prognostizieren. Aber wir haben es auf jeden Fall mit sich zuspitzenden sozialökologischen Krisen zu tun. Abgefedert werden die Krisen durch etwas, das ich als »reaktive Expansion« bezeichne. Um beim Beispiel von vorhin zu bleiben: Als die Böden in den USA ausgelaugt waren, hat man synthetischen Dünger eingesetzt. Die Stoffwechselkrise wurde dadurch aber nicht gelöst, sondern auf eine höhere Stufe gehoben.

In Teilen der Bevölkerung ist eine Sehnsucht zu beobachten, an dieser Zerstörung festzuhalten. Der absurdeste Ausdruck ist der coal roll, über den Sie im Buch schreiben.

Das ist eine Protestpraxis aus den USA. Dabei werden Dieselmotoren so manipuliert, dass man gezielt große Rußwolken ausstoßen kann. Eingesetzt wird das gegen die Fahrer von E-Autos und gegen Frauen. Es ist also eine Mischung aus plattem Sexismus und Widerstand gegen die Klimabewegung. Ich denke, dass sich dahinter eine paradoxe Identifikation mit der eigenen Nutzbarmachung verbirgt. Der Kapitalismus bemisst unseren Wert als Individuen an unserer ökonomischen Nützlichkeit. Wenn wir diese einbüßen, werden wir wertlos. Und diese Nutzlosigkeit wird in unserer Gesellschaft systematisch und gewaltsam abgespalten. Das könnte ein Grund sein, warum so viele Menschen über das rationale Maß hinaus Angst vor der eigenen Nutzlosigkeit haben.

Das rein ökonomische Argument – »die ökologische Transformation macht Produkte teurer« – kann die Emotionalität des Widerstands meiner Ansicht nach nicht erklären. Wenn sich viele mit den fossilen Energien identifizieren, dann nicht zuletzt deshalb, weil diese unsere Arbeit so produktiv und uns so nützlich gemacht haben. Dieses Verhältnis hat etwas Sadomasochistisches, denn wir leiden unter unserer Nutzbarmachung ja auch sehr.

In diesem Zusammenhang erwähnen Sie Erich Fromms »autoritären Charakter«, also die Begeisterung von Teilen der deutschen Arbeiterklasse in den 1930er Jahren für ihre Unterdrücker.

Richtig, in »Die Furcht vor der Freiheit« versammelt Fromm Studien des faschistischen Charakters. Da geht es u.a. um sadomasochistische Identifikationsmuster mit der Unfreiheit. Frustration und Allmachtsphantasien wurden auf faschistische Führer projiziert. Ich würde sagen, dass es heute eine ähnliche Projektion auf fossile Energien gibt.

Sie thematisieren in Ihrem Buch aber auch die imperialistischen Aspekte grüner Politik heute. Der Handel mit Emissionszertifikaten führt beispielsweise dazu, dass Indigene im globalen Süden gewaltsam vertrieben werden, weil man auf ihrem Land Naturparks einrichten will.

Ich habe bei einem Langstreckenflug einmal eine Kompensation gekauft und recherchiert, was mit dem Geld passiert. Mit der Kompensation hat man indische Bauern dafür bezahlt, ihre dieselbetriebenen Wasserpumpen aufzugeben und zu muskelkraftbetriebene Bambuspumpen zurückzukehren. Die Bauern haben also mühsam kompensiert, damit ich in Ruhe fliegen kann.

In den politischen Debatten werden ökologische und soziale Probleme fast immer getrennt verhandelt – entweder Klimaschutz oder die Lebensbedingungen von Beschäftigten. Brauchen wir einen erneuerten Materialismus-Begriff, der deutlich macht, wie verschränkt Gesellschafts- und Naturverhältnissen in Wirklichkeit sind?

Ich würde behaupten, dass die ökologische Dimension der Arbeit sowohl in der Arbeitssoziologie als auch in der politischen Linken lange ausgeblendet wurde. Allerdings denke ich nicht, dass wir ein neues Materialismus-Konzept benötigen. Es geht eher um eine Wiederentdeckung. Bei Marx ist die Arbeit der Stoffwechsel mit der Natur. Es war immer schon falsch, das zu übersehen.

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