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Staatstheater Braunschweig: Freizeitpark mit Untoten

Robuster Klassiker: Am Staatstheater Braunschweig feierte »Die Dreigroschenoper« Premiere

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Willkommen in der Postapokalypse: »Die Dreigroschenoper« in Braunschweig
Willkommen in der Postapokalypse: »Die Dreigroschenoper« in Braunschweig

Es scheint, wir sind hier mit Heiner Müllers »Hamletmaschine« in die Ruinen Europas geraten, wo die Schwimmbäder ausgetrocknet und verwaiste Sprungtürme wie Fingerzeige des Untergangs in der Wüste herumstehen. Aber bunte Luftballons und bevorzugt in Pink gekleidete Menschen gibt es noch reichlich, außerdem einen gefährlich lustigen, sehr nach US-amerikanischer Massenkultur aussehender Katzenkopf mit grünen Augen, der über allem schwebt.

Ein Eisbär sitzt an einer Bar, an der längst keine Getränke mehr verkauft werden, ab und zu, wenn er zu sehr im Weg steht, verprügelt ihn jemand. Er nimmt es demütig hin. Zwei maskierte Boxer tauchen auf und wieder ab – an Einfällen, auch unsinnigen, mangelt es dieser Inszenierung nicht. Das könnte – wie etwa bei Herbert Fritsch – herrlich skurril werden, wäre es denn auf konsequente Weise moralfrei. Aber gerade das ist hier offensichtlich nicht gewollt.

Katharina Schmidt inszeniert am Braunschweiger Staatstheater die »Dreigroschenoper« laut Spielzeitheft »in einer dem Rausch verfallenen Glitzerwelt, kurz nach der Apokalypse«. Nach der Apokalypse? Da fragt man sich, ob man hier nicht einer allzu postmodern-lässigen Vorstellung vom Weltuntergang anhängt. Oder ist mit Apokalypse, statt etwa des heute drohenden atomaren Weltkriegs, vielleicht der Erste Weltkrieg mitsamt seiner Folgen wie Inflation und Massenarbeitslosigkeit gemeint? Aus dieser Erfahrung schöpften Brecht und Weill tatsächlich für ihr 1928 am Theater am Schiffbauerdamm, dem heutigen Berliner Ensemble, uraufgeführtes Werk. Der traurige Eisbär an der Bar lässt eher auf die ökologische Katastrophe schließen.

Wie kann man in dem postapokalyptisch bemühten Bühnenbild von Pia Maria Mackert die Geschichte vom Bettlerkönig Jonathan Jeremiah Peachum und Macheath, besser bekannt als Mackie Messer, erzählen? Es zeigt sich wieder, dass die »Dreigroschenoper« ein überaus robustes Werk ist. Text und Musik widerstehen allen Versuchen, daraus eine bloße Projektionsfläche für eigene Absichten zu machen.

Das liegt vor allem an der genial-einfachen Konstruktion des Stücks, das aus dem Urschlamm des Kapitalismus ein bislang bisher nicht dagewesenes Klanggebilde formt: eine Oper, die sich ihres Ursprungs vergewissern will, was für Brecht/Weill heißt, die herrschenden Dissonanzen in eine möglichst simple Spielform mit eingängigen Melodien zu bringen. Das funktioniert eigentlich immer. Warum also nicht auch hier in Braunschweig?

Oder ist das Sujet einer Bettleroper (nach der Vorlage von John Gays »The Beggar’s Opera«) vielleicht inzwischen doch antiquiert? Im Gegenteil, es scheint aktueller denn je. Über die augenfällige Verbindung von Kriminalität und dem schönen Schein, der herrscht, gewinnt Katharina Schmidts Inszenierung dann doch jene innere Spannkraft, die den Abend auf seine Weise interessant macht.

Vergessen wir also einmal die Apokalypse, sie ist hier nicht das Thema, ist es auch bei Brecht/Weill nicht gewesen. Im Gegenteil, es geht um die Vitalität derer, die noch aus der aussichtslosesten Lage ihr kleines – oder auch großes – Kapital zu schlagen wissen. Sie greifen verbotenerweise und höchst rücksichtslos in der Wahl ihrer Mittel nach fremdem Besitz und Macht. Das klingt bei Brecht/Weill nach einem Loblied. Die Bettler, die Kriminellen gar, sind gefährlich, weil gänzlich frei von allen moralischen Fesseln und dabei überaus erfinderisch.      

Götz van Ooyens Peachum erscheint drapiert wie ein Untoter (wie eigentlich alle hier), aber das führt in die Irre. Zum Glück lebt die »Dreigroschenoper« von Dissonanzen, sodass sie auch das noch aushält, ohne allzu sehr an Wirkung einzubüßen. Peachum hält die Fäden des Bettlersyndikats in der Hand, wer in der Stadt betteln will, braucht eine Lizenz von ihm. Aber ein Peachum von heute geht natürlich weiter. Wir sehen ihn vor dem Fernseher, in dem Werbespots laufen, in denen er um Spenden für seine vielen Projekte bittet. »Schenken Sie Hoffnung!« Einzahlung bitte auf das eingeblendete Konto, sein Konto.

Das wird zum schlüssigen Sinnbild einer Gesellschaft, die aus Mitgefühl Kapital schlägt, die schamlos lügt, um eigene Interessen zu bedienen. Natürlich handelt einer wie Peachum nur aus edelsten Idealen heraus, für die Menschenrechte und eine glückliche Zukunft. Götz van Ooyen spielt das auf überzeugende Weise: Dieses Scheusal hat das Talent zu Höherem, bringt es vieleicht noch zum Minister!

Wäre da nicht der kaum weniger begabte Mackie Messer, sein lästiger Konkurrent. Als Peachum hört, dass seine Tochter Polly Mackie Messer heimlich geheiratet hat, schwört er Rache. Mackie soll an den Galgen! Roman Koniecznys Mackie sieht aus wie ein smarter Alien mit seinen spärlichen, aber dafür sehr langen weißen Haaren, worüber sich aber schon niemand mehr wundert.

Polly Peachum (Lea Sophie Salfeld) und Lucy (Nina Wolf), die Tochter des Polizeichefs Brown (skurril in seiner virtuosen Verrenktheit: Tobias Beyer), sind Mackie völlig verfallen, Brechts »Ballade von der sexuellen Hörigkeit« gibt die Erklärung. Sie liegt in der Natur des Menschen und der ist getrieben von Gier aller Art.

Aber die merkwürdigen Anleihen etwa beim Horror- und Untotensujet sind nichts gegen Brechts Sprache, deren Wucht Weill musikalisch noch verstärkt. Die »Dreigroschenoper« zeigt sich als effizient gebautes Werk ersten Ranges. Kein Ornament behindert hier die Funktion einer Szene. Stattdessen Sätze, so markant, dass man sie sich jedes Mal neu einrahmen möchte, etwa im so zeitgemäßen »Kanonenlied«: »Soldaten wohnen auf den Kanonen«. Natürlich der Klassiker: »Erst kommt das Fressen, dann die Moral«. In Zeiten, wo wir bis zum Erbrechen mit Moralgeboten gefüttert werden, eine drastische Ermahnung, Ursache und Wirkung nicht zu verkehren. Ach ja, die Frage, was der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer solchen ist, können wir längst im Schlaf richtig beantworten: Nichts!

Doch die »Dreigroschenoper« auf der Bühne muss natürlich mehr sein, als eine Sammlung von schlagenden Zitaten. Das zeigt sich auch in Braunschweig, wo von falschesten Voraussetzungen her gut gespielt wird. Auch dank des hervorragenden Dreigroschenorchesters unter Leitung von Clemens Rynkowski. Bei den Gesangsnummern jedoch agierte das Schauspielensemble nicht erstklassig, was sich besonders deutlich zeigte, als am Ende, als Mackie gehenkt werden soll und er dagegen vehement ansingt, sein Mikroport versagt. Was nun, ohne technische Unterstützung noch von ihm zu hören war, schien dünner als dünn (ganz am Ende sang er dann mit einem Handmikrofon).

Das Braunschweiger Publikum, bekannt dafür, offensiv konservativ zu sein, reagierte gespalten. Die Dame neben mir beklagte abwechselnd, dass es zu laut und dann wieder, dass es zu leise sei. Ein kleiner Teil des Publikums ging in der Pause, nicht wenige applaudierten am Ende stark. 

Der reitende Bote des Königs rettet Mackie übrigens in letzter Sekunde, und anstatt gehenkt zu werden, wird er in den Adelsstand erhoben und erhält ein Schloss samt Rente. Warum, weiß kein Mensch, das Leben ist nun mal ungerecht und reine Glückssache.

Nächste Vorstellungen: 10., 14. und 18. April
www.staatstheater-braunschweig.de

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