Seit 66 Jahren gegen Krieg: Die Geschichte der Ostermärsche

Die Tradition der Ostermärsche begann 1958 in London. In Deutschland erlebt die Bewegung seither Auf- und Abschwünge

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 4 Min.
Am 4. April 1958 rief die »Kampagne für nukleare Abrüstung« zum ersten Ostermarsch auf. Die Demonstranten liefen 80 Kilometer von London nach Adlermaston, wo bristische Atonwaffen entwickelt wurden
Am 4. April 1958 rief die »Kampagne für nukleare Abrüstung« zum ersten Ostermarsch auf. Die Demonstranten liefen 80 Kilometer von London nach Adlermaston, wo bristische Atonwaffen entwickelt wurden

»Dieses Teil hier, das war schon mit in Mutlangen«, sagt Hans-Dieter Lüdemann. Er kramt in seiner Kommode und zieht eine grüne Umhängetasche heraus. Der Reißverschluss klemmt, der Gurt ist eingerissen. Verwaschen und verblichen, aber noch gut zu erkennen, prangt auf der Tasche das Friedens-Zeichen: ein Kreis mit drei Strichen, die nach unten weisen.

Das habe er vor 25 Jahren mit schwarzem Filzstift aufgemalt, erinnert sich der 64-Jährige. Die Mutlangener Protestaktionen gegen die Pershing-Raketen im Jahr 1983 waren die erste Friedensdemonstrationen, an denen Lüdemann teilnahm. »Auf meinem Parka hatte ich auch so ein Zeichen, aber den ich habe ich irgendwann weggegeben«, sagt Lüdemann, der im niedersächsischen Landkreis Rotenburg/Wümme lebt.

Das »Peace-Zeichen« gehörte zu den großen Symbolen der Friedensbewegung der 1970er und 80er Jahre. Entworfen hat es der englische Designer und Pazifist Gerald Holtom vor 66 Jahren für die britische Friedensorganisation »Campaign für Nuclear Disarmament« (CND), gegründet unter anderen vom Philosophen Bertrand Russell.

Die erste große Demonstration der Kampagne mit dem Peace-Zeichen begann am Karfreitag, dem 4. April 1958, und führte über 80 Kilometer von London nach Adlermaston, wo die britischen Atomwaffen entwickelt wurden. 1952 war Großbritannien nach den USA und der Sowjetunion zur dritten Nuklearmacht aufgestiegen, fünf Jahre später zündete das Land im Pazifik seine erste Wasserstoffbombe. Viele der rund 10 000 Protestierenden in Adlermaston trugen das »Peace«-Zeichen auf großen Holz- und Pappschildern vor sich her oder reckten es, aufgemalt auf Plakate, in die Höhe.

Die Bilder der Demonstration gingen um die Welt, der Adlermaston-Marsch wurde zum Fanal für die internationale Ostermarschbewegung. Seitdem gehen in verschiedenen Ländern jedes Jahr zu Ostern Tausende Menschen auf die Straße, um gegen Kriege und atomare Rüstung zu protestieren. In der Bundesrepublik führt der erste Ostermarsch 1960 mit rund 1500 Teilnehmern zum Truppenübungsplatz Bergen-Hohne in der Lüneburger Heide.

Dort hat die Nato Raketen vom Typ Honest John stationiert. Sie sollen Atomsprengköpfe aufnehmen. Drei Jahre zuvor haben 18 westdeutsche Atomwissenschaftler – unter ihnen die Nobelpreisträger Max Born, Otto Hahn und Werner Heisenberg – in ihrer »Göttinger Erklärung« den Regierungsplänen für eine Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen scharf widersprochen.

Beflügelt auch von den Protesten der Studierenden, haben die Ostermarschierer in der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der 60er Jahre enormen Zulauf. 1967 beteiligen sich 150 000 Demonstranten an Oster-Aktionen in mehr als 200 Städten, ein Jahr später sind es doppelt so viele.

In jenen Jahren schwappen die Ostermarschlieder auch über die Mauer und die deutsch-deutsche Grenze. Mitglieder der jungen DDR-Singebewegung verbreiten die Melodien auch in ihrem Staat – teils leicht umgedichtet und mit Kritik auch an der Rüstung des Warschauer Pakts. Partei und Staatsführung vereinnahmen die Lieder jedoch: Wenig später erschallen die Ostermarschgesänge bei den offiziellen Ost-Berliner Maidemonstrationen.

In Westdeutschland zerfällt die Bewegung: Streit entzündet sich vor allem daran, dass die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und ihre »Massenorganisationen« den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei rechtfertigen. Erst 1968 gegründet, hat die DKP schnell großen Einfluss in der Friedensbewegung erlangt. Außenpolitisch ganz auf der Linie der Sowjetunion, heißt sie deren Kriege oder Stellvertreterkriege als anti-imperialistische oder -feudalistische Abwehrschlachten gut.

Eine Renaissance erfahren die Ostermärsche um 1980 mit der Debatte über die Aufrüstung der Nato mit atomaren Mittelstreckenwaffen, Zehntausende versammeln sich an den geplanten Standorten für Cruise Missiles und Pershing-II-Raketen. Die Kriege gegen Jugoslawien und den Irak mobilisieren in den 90er und 2000er Jahren erneut zahlreiche Menschen. Danach pendelt sich die Zahl der Ostermarschierer bei einigen tausend ein. Dabei erweitert sich die Themenpalette um Forderungen nach mehr Klimaschutz und die Aufnahme von Geflüchteten.

2020, in der Coronakrise, rufen das Netzwerk Friedenskooperative, Pax Christi, die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW und andere zu einem »Virtuellen Ostermarsch« auf. In einem Livestream auf werden am Karsamstag in Redebeiträge und Lieder unter anderem von Konstantin Wecker übertragen. In Baden-Württemberg zieht ein Propellerflugzeug ein mit den Worten »Abrüstung jetzt! Ostermarsch 2020« beschriftetes Banner und fliegt damit über das Bundesland.

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