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Käthe Kollwitz Ausstellung: Hausbesuch bei der Wahrheit
Das Städel Museum in Frankfurt am Main bietet die aufrüttelnde Kunst von Käthe Kollwitz zur Wiederentdeckung an
Ihre Majestät tobte. Keinen Fuß werde sie in die Ausstellung setzen, bevor nicht dieses schreckliche Plakat verschwunden sei. Vom Klassenstandpunkt aus betrachtet, ist es nur logisch, dass Kaiserin Auguste Viktoria so unwirsch reagierte. Schließlich zerstörte Käthe Kollwitz mit ihrem Beitrag zur »Deutschen Heimarbeit«-Ausstellung 1906 alle Leistungslügen des wilhelminischen Obrigkeitsstaats. Denn die ausgelaugte Frau mit den dunkel umrandeten Augen, deren Antlitz von den Litfaßsäulen gerissen wurde, schreit die soziale Wahrheit der Zeit in die Welt hinaus: »Arbeit macht krank, Arbeit tötet!«
Eine radikale Botschaft. Umso überraschender, dass sich auf Kollwitz alle einigen können. Von der ehemaligen DDR, wo sie als standhafte Antifaschistin und Löwenmutter des Proletariats geehrt wurde, bis zum CDU-Patriarchen Helmut Kohl. Gegen den Widerstand namhafter Experten beschloss der Altkanzler in den 90er Jahren, die Zentrale Gedenkstätte der Berliner Neuen Wache mit dem vergrößerten Nachguss einer Kollwitz-Pietà zu bestücken.
Nach den Gesetzen des Kanons müsste so viel Zustimmung über weltanschauliche Gräben hinweg tatsächlich für eine überhistorische Durchsetzungskraft sprechen. Doch welche unabhängige stilistische Qualität, die sich nicht von Tageslaunen vereinnahmen lässt, spricht für das Schaffen der Grafikerin und Bildhauerin, die nach dem Kriegstod ihres Sohnes Peter 1914 zur führenden Pazifistin wurde? Die Präsenz der Künstlerin in Schul- und Straßennamen beschert ihrer Person mehr Öffentlichkeit als ihrem Oeuvre. Insofern ist es eine bekannte Unbekannte, die das Städel Museum in Frankfurt am Main jetzt mit einer großen Werkschau in allen Facetten beleuchtet. Rund 100 Grafiken sowie einige Skulpturen und Gemälde sind zusammengekommen.
Die Ausstellung nähert sich Kollwitz über Kollwitz. Eine ganze Galerie von Selbstporträts empfängt die Eintretenden. Früh schon hat die Künstlerin ihre Ich-Studien als Programmäußerungen verstanden. Nett sein, so verraten die Spiegelblicke, wollte sie nie. Hier ein vergrübelt aufgestützter Kopf und eine schmollend vorgeschobene Unterlippe, dort nachdenkliche Augen über dunkelgrauen Tränensäcken.
1867 kommt die Tochter eines Juristen, der nicht in den Staatsdienst durfte und deswegen zunächst Maurer und später Prediger wurde, in Königsberg zur Welt. Sie genießt ein seltenes Privileg: Die Eltern finanzieren ihr eine künstlerische Ausbildung an der Münchner »Damenakademie«. Der schnell hingestrichelte Impressionismus bayerischer Biergarten-Szenen bleibt das probatorische Intermezzo einer Suchenden, die sich noch nicht gefunden hat. Dann aber stößt sie auf die düstere Radierkunst Max Klingers. Sofort zieht das farblose Genre die Malerei-Studentin in seinen Bann. Sie vergisst Pinsel und Palette.
Mit der Hinwendung zu Grau und Schwarz verändern sich auch die Sujets. Kollwitz entdeckt jenes prekäre Milieu, das die bürgerliche Kunst der Belle Époque sonst meist wegblendet. Höhere Töchter hätten vor dem Zyklus »Ein Weberaufstand« (1893–1897) wahrscheinlich das Schnupftuch herausgeholt und vor die Nase gehalten, so schonungslos legt Kollwitz das Elend des industriellen Proletariats offen.
Gleichwohl beschreibt Kuratorin Regina Freyberger solche Blätter nicht als »sozialkritisch«, sondern als »sozialthematisch«. Der konsequente Blick auf Armutsbetroffene resultiert nicht allein aus gesellschaftlicher Besorgnis oder emanzipatorischem Antrieb, jedenfalls nicht in den Anfangsjahren. Die Künstlerin erkennt in den schlecht bezahlt Schuftenden eine visuell unverbrauchte Motivwelt: »Solch eine Arbeiterfrau«, gibt Kollwitz zu Protokoll, »zeigt mir von ihrer Gestalt und ihrem Wesen viel mehr als die durch Konvention in ihrem Tun und Lassen eingeengte Dame.«
Einer Partei hat die Künstlerin, anders als ihr sozialdemokratischer Ehemann, nie angehört. Karl Kollwitz praktiziert in Berlin als Kassenarzt, was um 1900 »Armenarzt« bedeutet. Durch seine Tätigkeit wird auch die Ehefrau unmittelbar mit wirtschaftlicher Not konfrontiert – und macht die linke Sache mehr und mehr zu ihrer eigenen. Besonders nach 1918 verschwistert sich die kreative Arbeit mit dem Aktivismus. Für die »Sozialistische Arbeiterjugend« zum Beispiel entsteht 1924 das beschwörende Plakat »Nie wieder Krieg«, das noch die westdeutsche Friedensbewegung ein halbes Jahrhundert später nutzen wird.
Vielleicht zum ersten Mal überhaupt verleiht Kollwitz dem Widerstand ein weibliches Gesicht: Auf einem Holzschnitt aus den frühen 20ern (der später Skulptur wird) stellen sich Mütter schützend vor ihre Söhne, um sie vor einem neuerlichen, patriotisch verbrämten Massenmord zu bewahren.
Wie differenziert Kollwitz trotz einer persönlichen Betroffenheit um Gestaltungsfragen ringt, veranschaulicht das »Gedenkblatt für Karl Liebknecht« (1919). Im Leichenschauhaus zeichnet sie den Ermordeten, später im Atelier experimentiert die Perfektionistin mit Lithografie und Radierung, bis sie sich für den konturharten Holzschnitt als Medium der Wahl entscheidet.
Kleinformatige Grafik und wuchtige Skulptur fungieren nicht als Gegensätze. In beiden Gattungen liegt der Akzent auf der gestisch-emotionalen Rhetorik des Körpers. Aufbäumen im Schmerz, Gesichter, die hinter Händen Schutz suchen, oder verzweifelte Umarmungen wie in der Bronzegruppe »Mutter mit zwei Kindern« (zwischen 1932 und 1936). Dabei hat, neben den Pathosformeln der christlichen Tradition, auch der moderne Ausdruckstanz seine Spuren hinterlassen. So findet Kollwitz zu einer ernsten Schönheit, die der tiefblaue Wandanstrich im Städel behutsam unterstreicht.
Der Ausstellung gelingt ein schwieriger Spagat. Sie würdigt die ästhetische Stärke, ohne dem Oeuvre seinen politischen Stachel zu nehmen. Könnte das Angebot zur Wiederentdeckung der Künstlerin zu einem historisch günstigeren Zeitpunkt kommen als in der gesellschaftlich aufgewühlten Gegenwart des Jahres 2024? Bevor jemand, wie jüngst die CDU, mit vulgärliberaler Axt das Bürgergeld zerschlagen will, sollte er zuvor einmal auf die herzzerreißende Kohlezeichnung »Arbeitslosigkeit« (1909) schauen. Bleierne Zukunftsangst verschattet das Gesicht der kranken Mutter.
Jene intimen Einblicke in die Unterschicht, die sich dem Ehemann bei seinen ärztlichen Hausbesuchen eröffnet haben, verdichtet Kollwitz zu existenziellen Dramen. Diese mögen aus einer anderen Epoche stammen, trotzdem ballen wir angesichts der sterbenden Kinder, der hungernden Mütter immer wieder die Fäuste. Denn Kollwitz zwingt hinzuschauen. Dorthin, wo asymmetrische Besitzverhältnisse die Welt noch hässlicher machen. Gewiss wird man in der aufrüttelnden Schau einmal mehr Parallelen zwischen unserer neoliberalen Gegenwart und dem entgleisten Kapitalismus der Vergangenheit erkennen. Seine Aktualität bezieht all das jedoch aus seiner humanistischen Zeitlosigkeit. Käthe Kollwitz hat Bilder gegen eine mitleidlose Gesellschaft geschaffen.
»Kollwitz«, bis zum 9. Juni, Städel Museum, Frankfurt am Main
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