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Kurt Cobain starb vor 30. Jahren: Von Kindern für Kinder
Vor 30 Jahren starb Kurt Cobain. Eine kleine Erinnerungswerkstatt
Was genau bleibt von Kurt Cobain?
Kein Gebirgsmassiv ist heute nach ihm benannt. Die komplette elektronische Kommunikation auf dem ganzen Erdball funktioniert problemlos ohne seine Beteiligung. In der Weltpolitik sucht man Ämter, die er hätte ausüben können, vergebens. Hinsichtlich neuer Heilmethoden für tödliche Krankheiten hat er nichts vorzuweisen. Ebensowenig ist er heute auf dem Sektor der Quantenphysik ein Begriff. Ideologiekritik, Gesellschaftstheorie, politische Wissenschaften – da ist nichts. Bei Marx und Adorno wird er nicht erwähnt. Er hat niemals in Wimbledon gewonnen. Kinder können ganz ohne sein Zutun den Umgang mit Snapchat, Tiktok und Instagram erlernen. Er hat in seinem ganzen Leben kein einziges internationales Friedensabkommen unterzeichnet. Moderne Methoden der Buchhaltung gehen nicht auf ihn zurück. Kein Kochrezept wurde von ihm überliefert – übrigens existiert auch keines, das nach ihm benannt ist. Er steht nach allem, was man weiß, nicht für den neuen Workout-Trend Crawling, was übersetzt »Krabbeln« heißt. Keine Wirtschaftsakademie und keine Armeekaserne trägt seinen Namen. Es gibt kein Bild, das ihn in Anzug und Krawatte, ordentlich gescheitelt und mit einem Aktenkoffer ausgestattet neben einer Nationalfahne zeigt. Es gibt auch kein Foto, das ihn mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd reitend zeigt. In der Kleingärtnervereinsszene spielt er keine Rolle. Auch auf allen Fotografien, welche auf G8-Gipfeln und internationalen Klimakonferenzen gemacht wurden, fehlt sein Konterfei. Er ist kein nennenswerter Faktor bei der gegenwärtigen Debatte über Gendersternchen. Die Blockchain-Technologie spielte in seinem Leben (1967–1994) keine Rolle. Es gibt für ihn auch keine App. Dass es einmal »Achtsamkeitsmalbücher für Erwachsene« zum Ausmalen geben wird, wusste er nicht. Er wurde nie zu Kongressen der Versicherungswirtschaft eingeladen. Fußnoten in wissenschaftlichen Arbeiten beispielsweise zum Schadenspotenzial von Aromastoffen in E-Zigaretten zitieren ihn nicht. Nicht einmal den Jazz hat er erfunden.
Thomas Blum (mit Dank an Rayk Wieland)
Cobain war vielleicht siffig, aber faszinierend
Eines der desillusionierendsten Erlebnisse meiner Kindheit hat mit Kurt Cobain zu tun. Wenn man Eltern hat, die relativ jung Eltern geworden sind, dann ist es wahrscheinlich, dass es, was den Musikgeschmack anbelangt, einen kurzen Moment der Gleichzeitigkeit gibt, der wie ein Knick in der Matrix wirkt. Als ich begann, mich ernsthaft für Musik zu interessieren, ich muss etwa 13 gewesen sein, waren meine Eltern Ende 30. Das MTV-Unplugged-Konzert von Nirvana lief auf dem Fernseher in meinem Zimmer 1997 rauf und runter, obwohl es schon sechs Jahre alt war. Ich ekelte mich vor Kurt Cobains fettigen Haaren und noch mehr vor seiner Strickjacke. So wie ihn stellte ich mir den typischen Serienmörder vor. Dass er sich mit einer Schrotflinte in den Kopf geschossen hatte, nährte meinen Ekel nur zusätzlich. Andere Mädchen fanden die Haare, die Strickjacke und das mit der Flinte faszinierend. Ich fragte mich mit 13 nicht, was mit denen falsch war, sondern mit mir. Das war auch der Grund, warum ich Nirvana hörte. Die Musik war atemberaubend: »Here we are now, entertain us«, das war genau das, was auch ich wollte. Der Abscheu vor der Welt mit Selbstbewusstsein begegnen.
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Als meine Mutter das Zimmer betrat, um irgendwas mit Hausaufgaben-schon-gemacht-bla-bla zu fragen, sah sie kurz mit diesem scheinbar beiläufigen elterlichen Checker-Blick, was ich im Fernsehen schaute und sagte dann: kenn’ ich, fand ich früher auch toll. Die Welt stand für einen kurzen Moment still. Meine Mutter kannte sich mit dem Zeug aus, das ich mit Absicht zu laut gestellt hatte, weil es auf meine Eltern möglichst abstoßend wirken sollte: Siffiger Typ, garantiert drogenabhängig, so antriebslos wie nur möglich. Das war eigentlich die totale Bankrotterklärung für Nirvana und Cobain: meine Mutter mochte die. Heute finde ich es eher faszinierend, dass die Musik sowohl einem Teenie als auch einer Mutter in ihren 30ern kurz nach der Wende was gesagt haben muss. Danke, Kurt. Christin Odoj
Wer nicht berühmt sein will, ist kein echter Rockstar
Ich habe Kurt Cobain nie gemocht. Das lag nicht an seiner Musik. Die kam in speckigen Kellerklubs, in denen die schummrige Beleuchtung gnädig verdeckte, dass hier schon länger nicht mehr geputzt worden war, gut zur Geltung. »Nevermind« war die Klangtapete zu verschüttetem Bier und zertretenen Kippen.
Nein, ich mochte Kurt Cobain nicht, weil er die wichtigste Regel des Rockbusiness missachtete: Man geht auf die Bühne, weil man – verdammt noch mal! – berühmt werden will. Weltberühmt. Überlebensgroß und gottähnlich. Wie John Lennon, Mick Jagger und Prince. Oder meinetwegen auch Steven Tyler von Aerosmith, dem man heute noch ansieht, dass er in seinem Leben viel Spaß hatte. Denn berühmt zu sein hieß im Rockbusiness eben auch: schweinereich und sexuell enthemmt. Das volle Programm. Rockstar werden bedeutete: dem kleinbürgerlichen Mief den Stinkefinger zeigen, den vorgesehenen Berufsweg als Klempner, Vorarbeiter oder Verwaltungsangestellter in die Tonne kloppen. Etwas Besseres als den Tod finden wir überall, wussten schon die Bremer Stadtmusikanten.
Aber Kurt Cobain begriff diese einfache Weisheit nicht. Daher nervte sein Gejammer. Statt sich zu freuen, dass er kein Niemand mehr war, beklagte er die Schattenseiten des Promitums. Das hätte ein Freddie Mercury, mit dem er sich in seinem Abschiedsbrief verglich, im Leben nicht getan. Der jubilierte selbst auf dem Sterbebett noch: »The show must go on!« Vor allem aber war Mercury bewusst, dass man als Star eine Rolle auszufüllen hatte. Und wenn einem diese Rolle zu langweilig wurde, dann schlüpfte man eben in eine andere. David Bowie und Madonna beherrschten solche Metamorphosen meisterhaft. Kurt Cobain hingegen war schon mit einem Nr. 1-Album überfordert.
Wie man es richtig macht, demonstrierte seine Witwe Courtney Love. Die hat in ihrem Leben viel Mist gebaut (wie es Rockstars halt so tun), aber sie hat jede Chance genutzt, berühmt zu werden. Frank Jöricke
Die größte Spannung im Leben kommt aus dem Nichts
Erinnert sich noch jemand an den Horrorfilm »Blair Witch Project«? Dessen Gruseleffekt bestand darin, dass man die ganze Zeit darauf wartete, dass der Grusel gleich losgeht. Das war wie nachts in den Wald gehen, sich hinlegen und auf die Geräusche achten. Und das ist auch mehr oder weniger die Handlung dieses Films von 1999. Sechs Jahre später kam »Last Days« von Gus van Sant in die Kinos, der die letzten Tage von Kurt Cobain schildern sollte. Das wurde zumindest behauptet, denn es geht hier um einen Musiker namens Blake. Er ist schlecht drauf und hat keine Lust auf Kommunikation. Nimmt er Drogen, nimmt er keine Drogen? Unklar. Er wohnt mit ein paar Kumpels in einem alten Schloss und ist konstant unruhig. Auch er läuft durch den Wald, kommt aber wieder zurück und setzt sich ins Schloss, um etwas aufzuschreiben oder Musik zu machen, allein.
Ich hörte diese Musik nicht, als ich mir den Film zu Hause allein auf DVD anschaute. Ich hörte überhaupt nichts. Nahm ich Drogen? Nein. Ich fragte mich nur: wann setzt der Ton ein? Was ich sah, waren stumme Bilder. Ich überlegte: ah, so zeigt man Depression, Paranoia und Gefühle der Verlassenheit. Ich wusste, dem Film wurden Unverständlichkeit und Handlungsarmut vorgeworfen. Vielleicht war diese Ruhe der Protest gegen den Terror der Unterhaltungsindustrie? Und dann wurde er »der erste MTV-Tote« (»Spex«).
Durch die Stille wirkten die Bilder beiläufig, aber auch dramatisch: So ist es also, dachte ich, wenn man nichts mehr begreifen kann oder will. In mir baute sich über 30, 40 Minuten Spannung auf: wann würde etwas zu hören sein? Und was würde dann passieren? Wäre schlagartig alles klar? Könnte ich Cobains Tod endlich besser verstehen? Dann aber begriff ich, dass ich darauf lange warten konnte. Die DVD war defekt, sie hatte keinen Ton. Danach habe ich mich mit Cobain nicht mehr beschäftigt. Rest in peace, äh, silence. Christof Meueler
Das Vermächtnis: Ewige Jugend
Jedem Ende wohnt ein Zauber inne. Kurt Cobains Ableben samt Umstände füttern die True-Crime-Podcasts dieser Tage. Über »Heart-Shaped Box« wurde sicherlich dieses und jenes Gigabyte geschrieben. Eine Aura, die Nirvana und Cobain nicht umhüllte, wären sie den Pearl-Jam-Weg gegangen und über ihre Adoleszenz hinausgekommen.
Alle malten es sich so oder so ähnlich aus, bis es 2012 für die 22. Folge der zehnten Staffel des rechtsliberalen Kasperltheaters »Family Guy« tatsächlich aufgemalt wurde: Der Cobain, der sich vor dem Heroin in eine Naschsucht flüchtet und sich nicht das Hirn wegpustet, der hätte schnell Jim Morrison im Zulegen an Körpermasse übertrumpft und hätte sich langsam austrudelnd für den Popolymp disqualifiziert.
Nirvana hatten noch Urschleim hinter den Ohren, da froren sie sich auch schon für die Nachwelt ein. Das letzte Lied, das Cobain geschrieben und sogar mit Pat Smear und Hole-Gitarrist Eric Erlandson bei Jam-Sessions gespielt hat, ist dann eben auch kein Zurückspulen, sondern ein Fazit ihres ewigen Jugendwerks: »Do Re Mi«, die ersten Silben der Durtonleiter in der Solmisation. Dur, nicht Moll, schließlich ist es ein Lied von Kindern für Kinder. Da geht ein Knabe schlafen und ist etwas zwischen knatschig und satt vom eindrucksvollen Tag – den Gefühlsspagat durch Perspektivwechsel innerweltlich kartografiert: »And if I may, and if I might / Lay me down weeping / And if I say, what is life? / I might be dreaming / If I may, what is right? / Summertime, see me yield / Those years in his body / A phrase from his pocket / In chains from the no-end, lifelong dream.« Nun wacht der Junge schon wieder auf, weniger bockig, mehr einsichtig, dass man ihn in die Pflicht nimmt, wenn man ihn routinemäßig reanimiert, ein Vorgriff auf die Alten und ihre Arbeitswelt: »If I may and if I might / Wake me up and see me / If I do, and if I lie / Find me out, to see me / And if I’m made, cold as ice / I may have to see me heal / Raised in his own care / Erased from this moment / The change from his socket / That I may need.« Ken Merten
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