Ernährung als Klassenfrage

Aufgrund von Armut und Preissteigerungen können sich immer weniger Menschen ausreichende und vollwertige Nahrung leisten

  • Deike Janssen
  • Lesedauer: 6 Min.

Jugendzentren sollen jungen Menschen Räume für Freizeit ohne Konsumzwang und Kontrollen bieten. Jedoch berichten Mitarbeiter*innen von einem steigenden Druck, statt Freiräumen erst einmal Essen bereitzustellen, um den Hunger der Jugendlichen zu stillen. Deborah Scheerer, Sozialarbeiterin in einem Jugendzentrum in Frankfurt am Main, berichtet: »Momentan gibt es bei uns eigentlich jeden Tag in der Woche Essen. Zuerst haben wir montags und dienstags gemeinsames oder autonomes Kochen angeboten. Nun bieten wir mittwochs zusätzlich Mittagessen an, weil die Nachfrage der Jugendlichen einfach zu groß war. Dass wir so oft Essen anbieten, ist aus diesem Druck entstanden, dass die Jugendlichen bei uns mit Hunger auf der Matte stehen.« Gemeinsames Kochen und Essen ist in vielen Einrichtungen ein pädagogisches Angebot. Wenn damit jedoch armutsbedingte Mangelernährung kompensiert werden muss, wirft das ernste politische Fragen auf.

Meist gehen Jugendliche direkt nach der Schule in die Jugendfreizeiteinrichtungen. »Wenn die Jugendlichen in unseren Jugendtreff kommen, haben viele noch nichts gegessen, kein Pausenbrot, kein Mittagessen. Ein Mittagessen in der Schule kann sich nicht jede Familie jeden Tag leisten. Manche mögen das Essen in der Schule auch einfach nicht, für viele kommt es aber finanziell nicht infrage«, beschreibt die Mitarbeiterin eines Jugendtreffs. Theoretisch kann das Schulessen durch den Bund bezuschusst werden. In der Realität nimmt das nur ein Bruchteil der Anspruchsberechtigten wahr – wegen bürokratischer Hürden, Scham und langer Bearbeitungszeiten. Dabei wäre eine kostenlose Kita- und Schulverpflegung ein zentraler Ansatzpunkt gegen Ernährungsarmut.

»Wir als Linke fordern schon seit fast zwei Jahrzehnten, allen Kindern und Jugendlichen in Schulen und Kitas ein gesundes und kostenfreies Essen zu garantieren. Der wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hat dies 2020 als wichtigste Maßnahme für eine nachhaltigere Ernährung in Deutschland angemahnt. Ebenso spricht sich der Bürgerrat Ernährung mit höchster Priorität dafür aus«, sagt Ina Latendorf, Bundestagsabgeordnete der Gruppe Die Linke. Für dieses Vorhaben gibt es eine breite gesellschaftliche Mehrheit. 83 Prozent der Bevölkerung befürworten laut YouGov die Einführung eines kostenfreien, gesunden Mittagessens für alle in Kitas und Schulen. Trotzdem gibt es dafür keine politische Mehrheit. Die CDU nannte die Idee eines kostenfreien Mittagessens zuletzt eine »ausufernde Form der gesellschaftlichen Beglückung«, und die FDP kritisierte, dass damit Kinderlose das Mittagessen für Kinder anderer Leute bezahlen müssten.

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Oft stellen Jugendliche aus armen Familien einen großen Teil der Besucher*innen von Jugendfreizeiteinrichtungen, da sie weniger in Vereine oder Jugendverbände eingebunden sind. »85 Prozent der Jugendlichen, die zu uns kommen, haben von zu Hause aus nicht das Geld, um sich Mittagessen, einen Salat bei Rewe oder überhaupt eine ausgewogene Mahlzeit zu kaufen«, berichtet Deborah Scheerer. »Wenn wir an einem Tag mal kein warmes Essen anbieten, kaufen sich die Jugendlichen eine Tüte Chips als Mahlzeit«, erzählt ein Erzieher einer Jugendfreizeiteinrichtung.

Laut Statistischem Amt der Europäischen Union können sich 9,6 Millionen Menschen in Deutschland jeden zweiten Tag keine vollständige und vollwertige Mahlzeit leisten. Besonders Alleinerziehende und ihre Kinder sind betroffen. Deutschland schneidet dabei schlechter ab als alle anderen EU-Mitgliedsstaaten. Ein Viertel der Haushalte konnte sich zuletzt durch Preissteigerungen und Inflation weniger Obst, Gemüse und Fleisch leisten und musste vermehrt auf Fertigprodukte zurückgreifen. Alleine die Preise für Gemüse stiegen seit 2020 um rund 42 Prozent an. Viele Menschen haben keine andere Wahl, als günstigere, aber energiedichte, zucker- und fettlastige Lebensmittel zu kaufen. Diese Lebensmittel machen satt, sie sind jedoch arm an essenziellen Nährstoffen. Das beeinträchtigt das Aufwachsen und die Entwicklung von Kindern erheblich. Armutsbedingte Mangelernährung, ernährungsbedingte Krankheiten und Übergewicht sind so Teil desselben Problems.

Seit Jahrzehnten dokumentieren Wissenschaftler*innen, dass vor allem die Regelsätze von Sozialhilfe, Hartz IV und jetzt dem Bürgergeld – wie auch der Mindestlohn – die Kosten einer ausgewogenen Ernährung nicht decken. Für Menschen im Bürgergeldbezug oder mit niedrigem Einkommen reicht das Geld häufig am Ende des Monats nicht mehr für eine ausreichende oder gar gesunde Ernährung. Sie halten sich durch »Zieh- und Streckwochen« und einseitige Ernährung über Wasser. Oft sparen Eltern an sich selbst, um ihre Kinder mit Nahrung zu versorgen. Einem Rechtsgutachten der Rechtsanwälte Günther zufolge kollidiert die Berechnung der Regelsätze im Bürgergeld mit dem Menschenrecht auf Nahrung. Als Berechnungsgrundlage für die Höhe des Regelbedarfs dienen die Ausgaben von Haushalten mit geringem Einkommen – ohne Rücksicht darauf, ob das für eine gesunde Ernährung reicht und ob diese Familien nicht selbst unterversorgt sind.

Während inzwischen Themen wie soziale Ungleichheit verstärkt diskutiert werden, gibt es für Hunger und Ernährungsarmut weniger Aufmerksamkeit. Das liegt auch an der mangelnden Studienlage. Anders als in vielen anderen Ländern gibt es in Deutschland keine spezifischen Daten zu Ernährungsarmut oder Hunger. Nach einer Schätzung der Welternährungsorganisation von 2022 sind etwa 3,5 Prozent der Menschen in Deutschland betroffen. Dadurch, dass es keine eindeutigen Daten gibt, wird das Problem negiert. Und nicht nur das: Die Bearbeitung des Problems wird delegiert – an Tafeln, Ehrenamt, Wohlfahrtspflege und private Spender*innen. Das reicht von Lebensmittelausgaben über ehrenamtliche Suppenküchen und warme Mahlzeiten im Jugendzentrum bis hin zu regelmäßigen Essensangeboten in Stadtteilzentren. Dass nicht der Staat, sondern die Zivilgesellschaft und Wohlfahrtsverbände Ernährungsarmut kompensieren, wird inzwischen kritisch als »neue Mitleidsökonomie« oder als »Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage« diskutiert. Der Ausbau der Tafeln und anderer Angebote steht dabei im Kontext des Strukturwandels des Sozialstaats, in dem die Verantwortung vom Staat zur Zivilgesellschaft verschoben wird und aus Armutsbekämpfung Armutslinderung wird.

Angesichts der vollen Supermärkte mit unendlicher Vielfalt an Produkten, Tonnen verschwendeter und weggeworfener Lebensmittel bei gleichzeitig wachsenden Schlangen vor den Tafeln und immer mehr Hunger in der ärmeren Bevölkerung wird deutlich: Das Ernährungssystem ist nicht darauf ausgerichtet, die Versorgung und das Wohlergehen der Menschen sicherzustellen. »Dass es ein Thema Ernährungsarmut in einem so reichen Land wie Deutschland überhaupt gibt, ist ein Skandal. Aber der hat natürlich Ursachen, die zum einen in der kapitalistischen Wirtschaftsform und zum anderen in der ungerechten Verteilungspolitik der Bundesregierung liegen«, so die Bundestagsabgeordnete Latendorf.

Hunger und Mangelernährung sind politisch produziert, denn es gibt genug Mittel, um Ernährungsarmut hier und jetzt zu reduzieren. Kurzfristige politische Maßnahmen sind bereits mehrfach von Gremien, Verbänden und Wissenschaft benannt worden. Dazu zählen neben kostenlosem Essen in Schulen und Kitas die Anhebung der Regelsätze oder die Streichung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel. In Deutschland fehlt jedoch »nicht nur der politische Wille, sondern die Sensibilität, das Problem wahrzunehmen und die Ursachen soweit möglich zu beseitigen«, sagt der Professor für Ernährungswissenschaft Hans Biesalski.

Deike Janssen ist Sozialarbeiterin bei
einem Wohlfahrtsverband und aktiv in der Partei
Die Linke.

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