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»Ich Capitano« im Kino: Er wollte den Weißen Autogramme geben
In »Ich Capitano« zeigt Regisseur Matteo Garrone die Flucht zweier Minderjähriger aus dem Senegal von der Idee bis zum Ziel
Wenn wir an afrikanische Flüchtlinge denken, haben wir meist Bilder von überfüllten Booten und Aufnahmelagern im Kopf, sprachliche Bilder wie das vom Massengrab Mittelmeer sind derart in den Alltagssprachgebrauch übergegangen, dass sie uns nicht einmal mehr einen Schauer über den Rücken laufen lassen. »Für ›Ich Capitano‹ entschied ich, die gegenteilige Perspektive zu der klassischen Medienberichterstattung einzunehmen. Ich wollte eine Geschichte aus der Perspektive der Migrant*innen erzählen, die auf ihrer abenteuerlichen Reise um ihr Leben bangen müssen«, erklärt Regisseur Matteo Garrone (»Dogman«, »Gommorha«) zu seinem neuen Film, der seit Donnerstag in den deutschsprachigen Kinos zu sehen ist und der bei den diesjährigen Oscars einer von fünf nominierten Filmen der Kategorie »Bester internationaler Film« war.
In »Ich Capitano« zeigt Garrone die Flucht zweier Minderjähriger aus dem Senegal gewissermaßen von der Idee bis zum Ziel. Er inszeniert die Geschichte als Abenteuerfilm und erzählt sie sehr stringent aus der Sicht seines Protagonisten, des 16-jährigen Seydou (Seydou Sarr). Dieser und sein gleichaltriger Cousin Moussa (Moustapha Fall) planen zunächst die Reise nach Europa, sparen etwas Geld, das sie mit Hilfsarbeiten verdienen, und wir sehen ihnen dabei zu, wie sie sich ihre Zukunft in Europa ausmalen als Rap-Stars, die »den Weißen« Autogramme geben. Die Kamera zeigt die Gesichter der beiden in Großaufnahmen, zeigt ihre Vorfreude, ihre Unbedarftheit und bald auch, vor allem in den Zügen von Seydou, ihre Angst und Unsicherheit, ob das wohl die richtige Entscheidung ist. Außerdem hat Seydou ein schlechtes Gewissen gegenüber seiner Mutter, die ihm die »Reise« strikt verboten hat und ihm erklärt, er helfe ihr mehr, wenn er bei ihr bleibe.
Garrone nimmt sich also zunächst etwas Zeit, um Seydous Lebensumstände in Dakar, wo die beiden Jungs leben, zumindest grob auszuleuchten. Wir sehen eine Familie mit vielen Kindern, die zusammengedrängt auf dem Boden schlafen müssen, und eine Mutter, die die Familie allein versorgen muss, weil der Vater tot ist, wie Seydou später erzählt. »Schau, wo die Kinder schlafen, das Haus ist baufällig und unsicher«, sagt Seydou, als er seiner Mutter erklärt, warum er nach Europa will. »Ich will weg, ich will jemand werden, ich will dir helfen.« Der Film zeigt die Widersprüche der Motivationslagen dieser Jugendlichen. Einerseits wissen sie um die Gefahren und Unsicherheiten, die eine Flucht mit sich bringt, andererseits haben wir es hier mit jungen Menschen zu tun, die Träume haben und diese nicht ohne Weiteres aufgeben wollen.
So machen sich Seydou und Moussa auf den Weg Richtung Libyen, kaufen falsche Pässe, bestechen Grenzsoldaten, werden von Rackets ausgenommen, bald ist das Ersparte weg. Sie werden getrennt, landen in unterschiedlichen Gefängnissen. Weil Seydou die Telefonnummer seiner Mutter nicht verraten will, wie es die Gangster verlangen, die ihn und Hunderte anderer Flüchtlinge gefangen halten, weil sie von den Familien Geld erpressen wollen, wird er gefoltert und schließlich gemeinsam mit einem älteren Insassen an einen wohlhabenden Libyer verkauft. Die beiden sollen auf dessen Anwesen zunächst eine Mauer und dann einen Springbrunnen bauen. Dafür lässt er sie dann frei und finanziert sogar ihre Weiterfahrt nach Tripolis.
Garrone inszeniert hier in erster Linie das Fluchtabenteuer eines jungen Afrikaners. Die Kamera bleibt immer bei Seydou, von den Schicksalen aller anderen Figuren erfahren wir nur aus Erzählungen. Seydou ist dabei ein ungetrübter Held, er ist hilfsbereit, freundlich, versucht unterwegs, eine Frau, die auf dem Fußweg durch die Sahara entkräftet liegenbleibt, noch mit Wasser zu versorgen, sie wieder aufzurichten. Nichts an Seydou ist fragwürdig oder amoralisch, Garrone präsentiert uns eine Identifikationsfigur und bindet so die Affekte der Zuschauenden an sie.
Was wir im übrigen gezeigt bekommen, sind Menschen des globalen Südens, hier in Afrika, die gezwungen sind, sich um die Reste der Wertproduktion des kapitalistischen Weltsystems zu schlagen und sich dabei gegenseitig mit nackter Gewalt noch den letzten Penny abpressen. Indem Garrone die Handelnden aber schlicht in Gut und Böse einteilt, ohne dabei weiter zu differenzieren, entgeht ihm der Zusammenhang von kapitalistischer Wertproduktion und den gescheiterten Staaten, die die Staatenkonkurrenz zurücklässt und deren Scheitern letztlich die rechtsfreien Räume evoziert, die dann von den Rackets genutzt werden. Dass indes Europa reich und Subsahara-Afrika arm ist, erscheint wie ein Naturgesetz, die Bösen sind die Folterknechte und Gefängnisaufseher in Libyen, die wirklichen Verantwortlichkeiten für die krasse Ungleichverteilung des weltweit produzierten gesellschaftlichen Reichtums bleiben ausgeblendet.
Trotzdem ist »Ich Capitano« nicht unpolitisch. Gatteo zeigt in seinem Film, wie die Fluchterfahrungen die oft sehr jungen, in diesem Fall noch minderjährigen Menschen prägt. Wer einmal mit minderjährigen Geflüchteten gearbeitet hat, kennt vermutlich das Phänomen, dass viele von ihnen reifer, erwachsener und älter wirken, als sie sind und aussehen. Gatteo macht klar, woran das liegt: Wer eine solche Flucht unternimmt, auf der die Menschen häufig als Illegale in den Transitländern gelten und damit entrechtet und noch dem letzten Ganoven ausgeliefert sind, dessen Blick auf die Welt und sich selbst wird sich verändern durch das Martyrium, die Erfahrungen mit Tod, Sterben und der eigenen Todesangst – und durch die Konfrontation mit der Notwendigkeit, auch für wildfremde Personen Verantwortung übernehmen zu müssen. »Ich Capitano« weist damit energisch darauf hin, was es für die Betroffenen bedeutet, sie zu »Illegalen« zu erklären und damit zu entrechten.
Seydou muss schließlich einen der überfüllten Kähne Richtung Sizilien lenken, als 16-jähriger Kapitän, der nicht einmal schwimmen kann.
»Ich Capitano«: Italien, Belgien 2023. Regie und Buch: Matteo Garrone. Mit: Seydou Sarr, Moustapha Fall. 121 Min. Jetzt im Kino.
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