Dekolonisierung: Made in Germany

Tania Mancheno offeriert Perspektiven einer nichtweißen Erinnerungskultur

  • Gerd-Rüdiger Hoffmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Nelson Mandela lebt noch immer in Südafrika, wie dieses Graffito in Kapstadt zeigt.
Nelson Mandela lebt noch immer in Südafrika, wie dieses Graffito in Kapstadt zeigt.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des deutschen Kolonialismus hat zwar in den letzten Jahren durchaus eine neue Qualität erreicht, doch gingen in der Öffentlichkeit die Ablehnung russischer Künstler und das Ausladen russischer Ballettensembles schneller vonstatten als kritische Reaktionen auf Denkmäler oder Straßen, die nach Militärs und Politikern des deutschen Kolonialismus benannt sind. Auch die teilweise hilflos-propagandistisch wirkenden Debatten und Aktivitäten der offiziellen deutschen Kultur- und Außenpolitik im Zusammenhang mit den Restitutionsforderungen ehemaliger Kolonien offenbarten noch einmal die Defizite bei der Bewältigung von kolonialer Vergangenheit und Rassismus.

Die als internationaler Maßstab und Exportschlager verkündete »wertebasierte Außenpolitik« war auf diesem Feld erstaunlich blass. Das abstrakte Agieren mit diesem Begriff zeigte besonders deutlich, dass noch immer eine Betrachtungsweise vorherrscht, die nicht frei von Paternalismus ist. Eine kritische Distanz gab es kaum. Oder sie wirkte so aufgesetzt wie schnell in Umlauf gebrachte Pressemitteilungen.

Nicht einmal durchgehend heuchlerisch sind die Äußerungen der offiziellen Akteure zu nennen. Denn heucheln kann nur, wer es eigentlich besser weiß und lediglich die Wahrheit verschleiern will. Die westliche Arroganz ist so verinnerlicht, dass Nichtwissen oft gar nicht als Defizit wahrgenommen wird. Selbst Teile der institutionalisierten Linken innerhalb der bürgerlichen Demokratie des Westens – der parteipolitischen und auf Wahlumfragen und Koalitionen fixierten, der gewerkschaftlichen wie auch der sich autonom nennenden – hatten in ihrem Selbstverständnis immer wieder das Problem, nationale Interessen und ihren proklamierten Internationalismus programmatisch und in praktischen Aktionen überzeugend miteinander in Einklang zu bringen.

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»Die systemischen Ungleichheiten, die dem Kolonialismus als strukturell-rassistisches Unrechtssystem zugrunde lagen und liegen, sind bis heute zu spüren, auch auf erinnerungspolitischem Feld«, schreibt Jürgen Zimmerer, der als weißer Akademiker mit seinem kurzen Artikel einen treffenden Kommentar zu der von Tania Mancheno herausgegebenen Publikation über »Dekoloniale Perspektiven. Widerständige nicht-weiße Erinnerungskultur« bietet. Immer wieder zeige sich die »binäre Kodierung der Welt« als wirkmächtig und führe zu diesem Gegensatz »Wir« gegen »Sie«.

Auch unterschwellig wirkt und wirkte die Verteidigung von Privilegien. Oder wie Frantz Fanon es ausdrückte: »man ist reich, weil weiß, man ist weiß, weil reich«. »Deshalb«, so Fanon weiter, »müssen die marxistischen Analysen immer etwas gedehnt werden, wenn man sich mit dem kolonialen Problem befasst«. Allein aus diesem Grund ist es sinnvoll, Kolonialgeschichte und Rassismus aus der Perspektive von nichtweißen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Aktionskollektiven mehr als bisher zur Kenntnis zu nehmen.

Die Aktivistin und Wissenschaftlerin Tania Mancheno beschäftigt sich mit Kolonialgeschichte, Faschismus und Postkolonialismus sowie den Auswirkungen dieser Machtstrukturen auf Stadträume aus einer konsequent dekolonial-feministischen Perspektive. Sie hat Studien veröffentlicht, die sich historisch-machtkritisch mit Stadtplanungen in Paris, Algier und Hamburg beschäftigen. Ihr politisch-praktischer Wirkungsraum ist vor allem Hamburg.

Das neue Buch enthält zehn Aufsätze. Thematisch reichen sie von der Rolle der Kunst in der Erinnerungsarbeit (Dan Thy Nguyen) über die Geschichte Schwarzer Gewerkschaftsverbindungen (Kiné Alina Schremm), die Kritik an der Politik des Vergessens und der zelebrierten kolonialen Nostalgie auf dem Campus der Hamburger Universität (Tania Mancheno/Naz Al-Windi) bis zur Auseinandersetzung mit einer noch immer kolonial geprägten Museumspolitik und dem Umgang mit deutschen postkolonialen Orten sowie der An- und Enteignungsgeschichte des transkolonialen Begriffs »Kanake« (Diana Nacarh).

Ali Fathi berichtet in seinem erschütternden Beitrag »Made in Germany«, wie bei ihm 1980 während der »Kulturrevolution« im Iran selbst erfahrene postkoloniale Gewalt nicht nur traumatisch nachwirkt, sondern auch sein Geschichtsbild bestimmt. Seine schweren Verletzungen stammen von einer Handgranate deutschen Fabrikats. Damit ist er nicht allein, weshalb seine Schlussanmerkung lautet: »Vor einigen Jahren fingen wir, die mit den Splittern der Handgranate Made in Germany auf der Welt lebenden Menschen, an, ein Kollektiv zu bilden. Wir verstehen uns als Menschen, die in einer von Handgranaten gemachten Diaspora leben …, welche die Demilitarisierung der Nationen zum Ziel hat … Als Zeitzeugen sind wir gemeinsam weniger einsam.«

Der Band regt zum Nachdenken an, provoziert vielleicht an einigen Stellen und ist deshalb ein guter Beitrag, um einen Perspektivenwechsel auf den Weg zu bringen, der die nichtweiße Erinnerungskultur nicht nur am Rande und außerhalb der dominierenden weißen Curricula einbezieht. Denn nur dieser Perspektivenwechsel erlaubt es, so Jürgen Zimmerer, »die unterschiedlichen Sichtweisen und Erfahrungen miteinander in den Dialog zu bringen … Gerade eine deutsche Gesellschaft, die sich als diverse Gesellschaft versteht, mit vielfältigen Biografien und Erfahrungen, braucht eine Gedächtnislandschaft, die dem Rechnung trägt.«

Tania Mancheno: Dekoloniale Perspektiven. Widerständige nicht-weiße Erinnerungskultur. VSA-Verlag, 184 S., br., 16,80 €.

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