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Deutsche Vereinigung: »Nicht so – und nicht mit Ihnen!«
Die Erinnerungen des Sprechers der letzten DDR-Regierung, Matthias Gehler, an die Verhandlungen zur deutschen Einheit
Der Buch-Titel »Wollen Sie die Einheit – oder nicht?« bedarf einer Erklärung. Ins Telefon gebrüllt hatte diesen Satz Hermann Tiedje, Chefredakteur der »Bild«, als sich Matthias Gehler am 2. August 1990 bei ihm beschwerte. Das Boulevard-Blatt war an jenem Tag mit der Sozialneid schürenden Schlagzeile erschienen: »DDR: Die Menschen verzweifeln – die Minister machen Urlaub«. Darunter zwölf Porträts mit dem Kommentar: »Daß sie sich nicht schämen.«
Die Behauptung, millionenfach verbreitet, war eine Lüge. Die Minister der Regierung von Lothar de Maizière taten das, was alle DDR-Bürger zur Stunde taten, sofern sie dies noch konnten oder durften: sie arbeiteten. Und diese Verleumdung musste der mit Recht empörte Regierungssprecher zurückweisen.
Matthias Gehler war als Redakteur bei der CDU-Zeitung »Neue Zeit« Ende 1989 vom neuen CDU-Generalsekretär zu dessen Referenten gemacht worden. Und nach der Volkskammerwahl am 18. März berief ihn der Nachfolger von Hans Modrow zum Staatssekretär und Regierungssprecher. Der gelernte Elektriker aus Crimmitschau hatte Theologie studiert, war Pfarrer und Liedermacher gewesen und immer das geblieben, was man einen loyalen DDR-Bürger nannte. Auch in dieser herausragenden Funktion. Loyal urteilte er bis heute über Menschen, mit denen er es seinerzeit zu tun hatte. Distanz wird nur in der plastischen Schilderung von Begebenheiten deutlich, bei denen sich die Protagonisten selbst entlarven. Da fährt Gehler zum Beispiel mit einem Bundesminister nach Adlershof, vor und hinter ihrer Limousine rollen die Sicherungsfahrzeuge. »Der Gast bittet meinen Chauffeur, etwas langsamer zu fahren und schaut auf die Gebäude aus der Gründerzeit zur Rechten. ›Das ist ein fantastisches Haus. Kannst du es mir besorgen? Ich würde es gerne kaufen.‹«
Oder Kohl. Die Abneigung der beiden deutschen Regierungschefs war kaum zu überspielen, der feinsinnige, sensible de Maizière und der grobschlächtige Dicke vom Rhein mochten sich erkennbar nicht. Selbst in den Größenverhältnissen wurde die Antipathie sichtbar. Kohl spielte seine körperliche Wucht aus, der Regierungssprecher der DDR versuchte dies zu minimieren. Bei einem Fototermin etwa bittet er den Kanzler, sich auf der Treppe eine Stufe unter der seines Chefs zu stellen. »Meinen Vorschlag empfindet er als eine Anmaßung. Er spricht kein einziges Wort«, schreibt Gehler. »Dann steht er draußen mit de Maizière auf einer Stufe und schaut mich an. Ich nicke ihm ermunternd zu. Er tritt schließlich genervt eine Stufe tiefer und schickt mir sogleich einen triumphierenden Blick: Noch immer überragt er den kleinen Lothar de Maizière.«
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Der DDR-Ministerpräsident ist aber im Kopf schneller als Kohl, geistreicher, eloquenter. Das wurde bereits bei ihrer ersten Begegnung Anfang Februar 1990 deutlich. Kohl meinte, sich beim Vertreter des Arbeiter-und-Bauern-Staates anbiedern zu müssen, indem er erzählte, »dass er selbst aus einfachen Verhältnissen stamme. Sein Vater sei ein normaler Finanzbeamter gewesen und die Familie hätte sich allen Wohlstand hart erarbeiten müssen. Darauf entgegnete de Maizière selbstbewusst, dass er mit so einer bescheidenen Biografie nicht dienen könne. Er käme aus einer eher bildungsbürgerlichen, bourgeoisen Familie. Trotzdem könne man ja angesichts der zu bewältigenden Aufgaben versuchen, gut zusammenzuarbeiten«.
Gehlers Erinnerungen strotzen von solchen Preziosen. Obgleich man meinte, alles über das letzte Halbjahr der DDR gewusst zu haben, staunt man, was man alles an Neuem, Erhellendem, Unbekanntem erfährt. Das Buch ist in Teilen auch eine Ehrenrettung jener Frauen und Männer, denen man vorhielt und nachsagte, die DDR verschleudert zu haben. Nein, das taten sie wahrlich nicht: Viele von ihnen verteidigten dieses Land, obgleich sie angetreten waren, es abzuschaffen. Und sei es auch dadurch, dass sie mit DDR-Fahne vorm Weißen Haus vorfuhren oder im Kreml Haltung zeigten.
Ende April 1990 fand ein Gespräch beim sowjetischen Ministerpräsidenten Ryschkow statt. Die Atmosphäre war angespannt, schreibt Gehler, frostig. Ryschkow hielt der Delegation aus Berlin vor, dass die DDR ihre Erdgasimporte aus der Sowjetunion beschränken oder sogar einstellen wolle. »De Maiziére bleibt ruhig und fragt zurück: ›Woher haben Sie diese Informationen?‹ Ryschkow: ›Von unserer Botschaft auf der anderen Seite der Mauer.‹ De Maizière wartet kaum die Übersetzung ab: ›Wenn Sie mit uns verhandeln, dann sollten Sie daran denken, dass Sie auch auf unserer Seite der Mauer eine Botschaft haben.‹« Nach dieser Konfrontation entspannte sich merklich die Atmosphäre, Ryschkow wurde locker, als er sah, dass er keiner Marionette gegenüber saß. »Das Gespräch wird unkonventionell und sogar witzig. Wir reden über sich anbahnende weitere Wirtschaftsabschlüsse.«
Gehler hatte auch eine von ihm ausgewählte und eingestellte Stellvertreterin. Sie hieß Angela Merkel. Wie er sie beschreibt: grandios. Das muss man lesen. »Ihr öffentliches Reden hatte immer etwas Vortragendes, ihr Handeln war selten spontan – obwohl sie angenehm spontan sein kann. Als Öffentlichkeitsarbeiterin war sie darum nach heutigen Maßstäben eine Fehlbesetzung, weil sie die Öffentlichkeit scheute.«
Es ist gut, dass Matthias Gehler so lange mit der Veröffentlichung gezögert hat. So vermied er, dass seine Erinnerungen in der Memoirenflut der frühen Einheitsjahre untergingen, oder dass er sich zu sehr dem Mainstream angepasst hätte (immerhin war er bis zum Ruhestand Chefredakteur beim MDR). So erfahren wir Dinge, die man zwar immer vermutete, aber noch nie schwarz auf weiß gelesen hat.
Auch Tiedje bekam übrigens eine angemessene Antwort auf seine Frage, ob Gehler nun die Einheit wolle oder nicht. »Ich brüllte also zurück: ›Aber nicht so – und nicht mit Ihnen!‹« Bekanntlich kam auch das anders.
Matthias Gehler: »Wollen Sie die Einheit – oder nicht?« Erinnerungen des Regierungssprechers. Edition Ost, 256 S., br., 18 €.
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