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Michael Verhoeven: Kino als Sprechstunde
Zum Tod des Filmregisseurs Michael Verhoeven
Vor Jahren fuhr ein nd-Journalist ins bayerische Passau zum Interview mit der Historikerin Anna Rosmus. In einem Laden der Nachbarschaft fragte er die Verkäuferin, welche Blumen denn zu der Anna passen würden. Prompte Antwort der älteren Dame: »Grabpflänzln.« Anna Rosmus, Lehrerstochter aus CSU-schwarzem Haushalt, geboren 1960, hatte als Schülerin zum regionalen Widerstand unter Hitler geforscht, im festen Glauben, die Bürger Passaus seien so ganz anders gewesen als der böse deutsche Rest. Irrtum. Kruzifixe so dicht überm Kopf, dass man sich bücken muss, aber die Stadt: ein hartnäckiger, biedersinnmaskierter Nazihort. Die tapfer unbestechliche Anna Rosmus wurde zur »Hexe von Passau«.
Nach Motiven dieser Erfahrung drehte Michael Verhoeven 1989 den Film »Das schreckliche Mädchen«, der für den Oscar nominiert wurde und einen Silbernen Bären der Berlinale bekam. Eine eindringliche Erzählung: Nestbeschmutzung kann ein wahres Schönheitsideal sein, und Tabuverletzung ist immer auch Selbstbefreiung.
Verhoeven – sein Vater Paul Verhoeven, eine bayerische Theatergröße, drehte den legendären Defa-Märchenfilm »Das kalte Herz« – war Arzt, bevor er Regisseur wurde. Friedrich Wolf war es auch, Anton Tschechow ebenfalls. Der Weg in die Kunst bedeutet für einen Mediziner, nicht mehr Therapeut zu sein, sondern »nur« noch Diagnostiker: Kunst bietet Hilfe zur Selbsthilfe – wahrer Trost liegt nicht in der Gesundheit, sondern im gesunden Empfinden, dass nichts im Dasein dauerhaft hält. Einverständnis mit einem Schmerz kann Leiden eher lindern als dauernde Narkosen.
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Gern ließ sich Verhoeven als Handwerker bezeichnen. Denn das, was in der Kunst aus dem Geheimnis kommt und in ein Geheimnis zielen möge, muss doch trotzdem einen realen Kern erlernbarer Techniken aufweisen. In diesem Sinn besaß Verhoeven eine angenehme Unfähigkeit zum Hochmut. Er wollte nie härter sein, als nottut. Wahrscheinlich lag da eine Ursache für die unangestrengte Vielseitigkeit seines Schaffens, das behend die Stile wechselte und Serielles, Marktgewogenes (»Lilli Lottofee«, die TV-Serie »Die schnelle Gerdi«) mit dem engagiert aufklärerischen Film verband.
Genannt sei »Die Weiße Rose«, die Geschichte der Geschwister Scholl (Lena Stolze als Sophie). Bewegende Kontroverse zwischen dem gefährlichen Sog einer gleichschaltenden Kollektivität und jener kühnen Courage Einzelner, denen ein barbarisches System die Todeszeichen ins junge Gesicht kratzt. Und »Mutters Courage« war eine Hommage an den Weltbürger George Tabori und dessen Mutter, die auf seltsame Weise vor den deutschen Gasöfen gerettet wurde. Ein Werk Verhoevens sprengte 1970 sogar die Berlinale: »o. k.«, eine Geschichte gegen den Vietnamkrieg. Die junge Eva Mattes in der Rolle einer vergewaltigten Vietnamesin. Eine heftige Debatte um vermeintlichen Anti-Amerikanismus führte zum Abbruch des Festivals.
Jahrelang gehörte Verhoeven das Kino Toni in Berlin-Weißensee, er rettete es nach 1990 vor rüdem Konkurrentenfraß. Und mit seiner Frau Senta Berger hatte er die Filmproduktionsfirma Sentana gegründet. Wohl auch, um Werke wie die eben genannten drehen zu können, und zwar im beruhigenden wie beunruhigenden Geist kritisch fragender Unabhängigkeit. Die Güte von Verhoevens Filmen kam aus dem Wunsch nach der guten Welt, seine Arbeiten scheuten auch das didaktische Moment nicht – häufig vom Gesellschaftselend berührt und wohl ein klein wenig daran glaubend, Mitveränderer des großen Stoffwechsels sein zu können, der uns alle verarbeitet.
Dr. Michael Verhoeven, der seine Promotion über Gehirntumore schrieb: Immer wieder kommt man auf das Zweigestirn Arzt und Künstler. Des Menschen Innerstes als Forschungsfeld. Muskeln und Nervenbahnen, Blut und Wasser, Haut und Haar bilden Hülle und Halt für ein Bewusstsein, das operativ freilich nicht zu packen ist. Wir sind aus Bausteinen, und das Wunder Mensch erledigt sich nach den banalen Gesetzen von Verschleiß und Verwitterung – aber zugleich sind wir, in unserer Fantasie, doch endlos. Michael Verhoevens Filme: hilfreiche Sprechstunden fürs Leben. Nun ist der so bezwingend nahbare, im umfassenden Sinn freundliche Künstler mit 85 Jahren in München gestorben.
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