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Bahnhofsviertel in Frankfurt: Wer ist Schuld am Zombieland?
Im Frankfurter Bahnhofsviertel sind Drogenabhängige allgegenwärtig, die Stadt ist ratlos
Die Einfahrt in den Frankfurt Hauptbahnhof ist wirklich spektakulär: Hinter dem riesigen Gleisvorfeld glitzern die Bürotürme der Banken in der Sonne. Ein französischer TGV wartet auf dem Abstellgleis auf die nächste Fahrt nach Paris, Marseille oder Bordeaux. Und da fährt die kleine, rote Dreieichbahn nach Dieburg. Kaum zu glauben, dass sich hinter dem sagenhaften Reichtum unfassbares Elend verbirgt.
Einmal quer durch das imposante Gebäude hindurch, dem Menschenstrom folgend, über den Bahnhofsplatz in die Nebenstraßen hinein, und da liegen sie, sitzen sie – jene, die am Rande eines Weges zurückgeblieben sind, den viele für gescheitert halten: des Frankfurter Weges. Hunderte Drogenabhängige campieren auf offener Straße, sind immer auf der Suche nach genug Geld für den nächsten Schuss, den sie immer öfter brauchen. Es riecht nach Fäkalien, nach Abfall, nach menschlichem Verfall: Viele der Menschen hier haben Wunden, sichtbare psychische Erkrankungen. Sie brüllen, ohne erkennbaren Grund, zittern, liegen mitten am Tag apathisch in ihren dreckigen Schlafsäcken in Hauseingängen.
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Ein Drogenproblem hat Frankfurt am Main schon seit Jahrzehnten, wie viele andere Großstädte auch. Doch im selbsterklärten »Mainhattan« betrachtet man die Abhängigen seit den Neunzigerjahren als Kranke und verfolgt ein Konzept, das man selbstbewusst als »Frankfurter Weg« bezeichnet.
Denn die Statistik ist wahrhaft beeindruckend: Ende der Achtzigerjahre versammelten sich täglich bis zu 1000 Heroinabhängige in der Taunusanlage, einem Park in der Stadtmitte. 192 Menschen starben 1989 in der Stadt an einer Überdosis. 2023 kamen 32 Menschen ums Leben. Frankfurt liegt heute bei den Drogenopfern weit hinter den anderen deutschen Ballungsräumen zurück.
Bestandteil des »Frankfurter Wegs« sind vier Säulen: Prävention, Beratung und Therapie, Schadensminimierung und Bekämpfung des Drogenhandels. In mittlerweile vier Druckräumen können sich die Süchtigen unter hygienischen Bedingungen und ohne Angst vor der Polizei ihren Schuss setzen. Zudem versuchen Streetworker den Weg zu medizinischer Behandlung und Therapieangeboten zu weisen. Ossip heißt das Projekt, das gemeinsam von Drogenreferat, Ordnungsamt und Polizei betrieben wird.
Wie gesagt: Den Drogentod sterben heute in Frankfurt viel weniger Menschen als anderswo. Nach Ansicht vieler Befürworter des »Frankfurter Wegs« ist es vor allem das, was zählt. Hauptsächlich im linken Spektrum der Stadtpolitik wird das Modell befürwortet. Offen darüber reden will aber trotzdem niemand. Vor der Fußball-Europameisterschaft im Sommer 2024 bezeichnete das britische Boulevard-Blatt »Sun« das Bahnhofsviertel als »Zombieland«. Viele befürchteten, dass dies der Anfang vom Ende des »Frankfurter Wegs« sein könnte.
Denn wenn man nachts um gegen halb eins am Fenster seines Zimmers im dritten Stock des Intercity-Hotels steht und neben dem Südeingang des Hauptbahnhofs einen leblosen Menschen ohne Schlafsack liegen sieht, direkt daneben eine Gruppe von Polizisten, die sich nicht um ihn kümmert, dann ist klar, dass hier etwas schiefläuft: Die Menschen sterben nicht. Aber leben sie?
»Wir haben Orte, an denen sich die Leute den Schuss setzen können«, sagt einer der Polizisten. »Aber es gibt nirgendwo einen Ort, an dem sie in der Nacht untergebracht werden können. Keine Obdachlosenunterkunft will einen aggressiven Junkie haben.« Der »Frankfurter Weg« wurde nie zu Ende gebaut.
Nach dem britischen »Zombieland«-Bericht herrschte im Rathaus Aufruhr: Die Lokalzeitungen berichteten von einer Krisensitzung nach der anderen. Ein örtlicher Wochenmarkt sollte wiederbelebt werden, außerdem sollte die Stadtreinigung öfter unterwegs sein. Öffentlichkeitswirksam schickten Hessens Ministerpräsident Boris Rhein und Innenminister Roman Poseck (beide CDU) Hundertschaften der Polizei ins Bahnhofsviertel; Auftrag: den »Kontrolldruck« auf Dealer erhöhen, sie aus dem Viertel vertreiben. Dennis, ein Streetworker, der im Viertel unterwegs ist, sagt dazu: »Es ist natürlich klar, dass Abhängige und Dealer zusammengehören. Wenn die Dealer verdrängt werden, verlagert sich auch die Drogenszene woandershin. Aber die Hilfsangebote bleiben eben hier.« Der »Frankfurter Weg« würde scheitern.
Viele hier im Bahnhofsviertel würden ein Aus für die offene Drogenszene begrüßen. »Es hat sich alles verändert«, sagt Mark Schneider, der als Türsteher in einem der Rotlichtlokale in der Kaiserstraße arbeitet, seit vielen Jahren schon. Es ist nicht sein richtiger Name. Denn das Viertel hat jetzt auch ein Gewaltproblem. »Früher waren die Leute hier auf Heroin«, sagt Schneider, »und das war schlimm genug. Als ich angefangen habe, waren Tote hier Alltag. Heute rauchen die Leute immer mehr Crack.« Crack besteht aus Kokainsalz und Backpulver. Selbst beim ersten Mal besteht schon eine hohe Abhängigkeitsgefahr. Zudem dauert der Rausch nur wenige Minuten, bis dann ein sehr starkes Verlangen einsetzt. Einige der Begleiterscheinungen: Der Charakter verändert sich, die Konsumenten sind aggressiv, entwickeln Wahnvorstellungen und Psychosen. Und befinden sich wegen der Entzugserscheinungen unter dem ständigen Druck, mehr Stoff zu beschaffen.
Was das bedeutet, ist mittlerweile überall im Bahnhofsviertel sichtbar. Der Frankfurter Polizeibericht ist voll mit Berichten von Raubüberfällen und Gewalt. Die Anwohner, Gastronomen und Ladenbetreiber sind entweder verzweifelt oder resigniert. Hier im Viertel, und das ist auch sehr besonders, stellen die Meisten die Krankheit und das Leid in den Vordergrund, während sie betonen, dass sie schon gerne angenehm wohnen würden. Aber dass sie sich eben auch hilflos und alleingelassen fühlen. Und dass es so nicht weitergehen kann.
Doch selbst einige der Streetworker sind sich da nicht so sicher, ob der »Frankfurter Weg« noch eine Erfolgsgeschichte ist: Das Aufkommen von Crack sei ein kompletter »Game-Changer«, weil die Droge die Gesundheit eben so gnadenlos zerstöre wie nur wenige andere Drogen. Und wer in ein paar Jahren an den Spätfolgen des Missbrauchs stirbt, landet nicht in der Statistik. Wahrscheinlich ist die Zahl der jährlichen Drogentoten in Frankfurt also tatsächlich um einiges höher.
Ob der »Frankfurter Weg« tatsächlich zur Lösung beiträgt oder möglicherweise Teil des Problems geworden ist, lässt sich nicht mehr so genau sagen. Crack hat alles verändert. Es macht nicht nur schnell süchtig, sondern bindet die Süchtigen auch an Frankfurt. Die Metropole ist leicht zu erreichen, selbst von Kassel, Würzburg, Heidelberg, Stuttgart aus, und natürlich aus den vielen Kleinstädten im Umland. Streetworker und Polizisten haben dabei auch beobachtet: Seitdem zunächst das Neun-Euro-, dann das 49-Euro-Ticket eingeführt wurde, habe die Zahl der Abhängigen im Bahnhofsviertel zugenommen. Die günstigen Angebote machen es einfacher, nach Frankfurt zu kommen. Denn Crack ist keinesfalls überall leicht zu bekommen: In kleinen und mittelgroßen Städten sei die Droge kaum zu haben, sagt ein Sprecher des Polizeipräsidiums Südhessen. In Frankfurt hingegen weiß man, wo es die Droge gibt: Es ist ja nicht zu übersehen.
Und weil man Crack so oft braucht und die Entzugserscheinungen so heftig sind, bleiben die meisten im Bahnhofsviertel – auf der Straße. Irgendwann gehen dann Familien in die Brüche, Wohnungen verloren. Die Menschen werden tatsächlich obdachlos. Auch wenn die Grenzen zwischen den Kommunen im Rhein-Main-Gebiet oft fließend sind, ist nichts aufeinander abgestimmt. Drogen-, Wohnungspolitik, Gesundheitsversorgung, Schuldnerberatung. Alle machen ihr eigenes Ding und oft geht es nur schleppend voran: Es dauert überall Monate, um Therapie- oder Beratungstermine zu finden. Und irgendwo im Rhein-Main-Gebiet eine bezahlbare Wohnung zu finden, ist ziemlich ausgeschlossen.
In der Metropole selbst zeigt sich mittlerweile ein großes Problem des »Frankfurter Wegs«: Denn alle damit einhergehenden Angebote sind im Bahnhofsviertel konzentriert. Wenn man es mal schaffe, jemandem eine Wohnung zu besorgen, dann sei er weit weg von der Therapie und Beratung, beklagen Streetworker, deren Aussagen oft stark von der offiziell verbreiteten Zuversicht abweichen: »Ich frage mich oft, wie ein Präventionsmodell erfolgreich sein kann, bei dem die Zahl der Süchtigen ständig steigt?«, fragt einer von ihnen.
Eigentlich bräuchte man viel mehr Therapieplätze, eine aufeinander abgestimmte Drogenpolitik über die Stadtgrenzen hinaus. Doch die Kommunen im Umland wollen das nicht, lehnen den liberalen »Frankfurter Weg« ab. Vielerorts gibt man den Frankfurtern die Schuld daran, dass die Zahl der Crack-Süchtigen überhaupt derart zunehmen konnte. »So wie sich mir die Dinge darstellen, hat man einfach zugeschaut, wie die Dealer im Bahnhofsviertel auf Crack umgestellt und die Leute süchtig gemacht haben«, sagt der Bürgermeister einer mittelhessischen Kleinstadt. Und auch in einigen Polizeipräsidien der Region sieht man das laxe Vorgehen der Frankfurter Kollegen gegen die Droge kritisch. Die Frankfurter Polizei hingegen betont, man gehe gegen den Drogenhandel vor. In starkem Kontrast dazu stehen jedoch die Klagen örtlicher Ladenbesitzer und Gastronomen, die schon seit Jahren den offenen Drogenhandel beklagen.
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