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Proteste gegen Milei: Mit Gehstock gegen den Neoliberalismus
Alberto Schocron kämpft mit anderen aufständischen Rentnern gegen die Politik des argentinischen Präsidenten Javier Milei
Mittwoch, 15 Uhr, vor dem imposanten Kongressgebäude in Buenos Aires. Eine bunte Menschenmenge drängt sich auf den Bürgersteig. Der Altersschnitt liegt jenseits der 60, die dominierende Haarfarbe: weiß. Wie jede Woche halten hier, wo sonst Abgeordnete zu Sitzungen der beiden Parlamentskammern eilen, Rentner*innen ihren Protest ab. Kämpferische Reden scheppern aus einem Lautsprecher und übertönen das Geheul der vorbeirasenden Motorradkuriere.
Mittendrin, am Banner der Jubilado/as Insurgentes (dt.: aufständische Rentner*innen), steht Alberto Schocron. Der 77-Jährige ist seit zwei Jahren in der gleichnamigen Organisation aktiv, er kämpft dort für eine Erhöhung der Rentensätze und nun gegen die neoliberale Politik des Präsidenten Javier Milei. »Wir fordern hier unsere Rechte ein,« sagt er. Nach einer kurzen Kundgebung mit offenem Mikrofon umrunden die Senior*innen jeden Mittwoch in einer kurzen Demonstration das Parlamentsgebäude. Eine »Umarmung für den Kongress« nennen sie das. In den vergangenen Monaten seien immer mehr Menschen dem Aufruf gefolgt. »Wir haben die Kundgebung für alle Rentner geöffnet«, sagt Schocron. Man suche bewusst nach Gemeinsamkeiten, nicht nach Differenzen.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Schocron sticht durch seine Erscheinung aus der Menge hervor. Schlohweißes Haar, geschwungener Schnurrbart, rote Brille, Jeansjacke und dazu der Stock. Der dient nicht nur als Gehhilfe, er ist zugleich kämpferische Geste. Die argentinische Nationalfahne hat Schocron sich als Umhang um den Hals gebunden. Vor der Brust ein Schild, auf dem in großen Lettern steht: »Sie können uns nicht umbringen, weder durch Knüppel noch durch Hunger.« Der Aktivismus gibt ihm Kraft, daran besteht kein Zweifel.
Schocron ist das, was man einen ruhigen Zeitgenossen beschreiben würde. Er ist außerordentlich freundlich, bemüht darum, niemanden außen vor zu lassen. Seine Worte wählt er mit Bedacht – und doch haben sie es in sich: »Milei ist gewissermaßen ein Auftragskiller, der dem Wirtschaftssystem extrem nützlich ist.« Als Psychiater wisse er, wovon er spreche. Der argentinische Präsident, der behauptet, jeden Tag mit seinem vor sieben Jahren verstorbenen Hund zu spielen, habe ernsthafte psychische Probleme. »Wir erleben gerade einen Gerontozid«, meint Schocron. Die Regierung betreibe einen Massenmord an alten Menschen, die ihnen nichts wert, weil nicht verwertbar seien.
Wenngleich derartige Beschreibungen sehr drastisch wirken mögen, ist Fakt: Der marktradikale Milei betreibt einen Kahlschlag sondergleichen. Er will den Staat zerstören und hat sich dem »déficit cero« verschrieben (hierzulande: schwarze Null). Der selbsternannte Anarchokapitalist wird nicht müde zu betonen, es sei kein Geld da. Gleichzeitig bezeichnete er unlängst alle, die Devisen illegal ins Ausland schaffen, als Helden. Sein Sparkurs macht vor kaum etwas halt: Die staatlichen Universitäten klagen, dass sie Ende Mai den Betrieb einstellen müssen, weil ihr Budget trotz 276-prozentiger Jahresinflation nicht erhöht wurde. 15 000 Staatsangestellte wurden bislang gefeuert und Milei frohlockte kürzlich, dass zehntausende weitere Massenentlassungen folgen würden. Medikamente gegen Krebs oder HIV werden vom Staat nicht mehr zur Verfügung gestellt; mit teils tödlichen Folgen. Eine Anpassung der Renten hat die Regierung bis zum März vor sich hergeschoben, um dann die Auszahlung der Leistungen in zwei Raten zu teilen. Dank Inflation lässt sich so Geld sparen.
Schocron sagt: »Das déficit cero zahlen wir, die von der Mindestrente leben.« 200 000 argentinische Pesos erhält er monatlich, das entspricht rund 215 Euro. Angesichts der extremen Inflation reicht das Geld hinten und vorne nicht. Wer die Mindestrente bezieht und eine Miete zahlen muss, dem bleibt kein Geld für Essen oder Medikamente mehr. War die Situation für Mieter*innen schon zuvor kompliziert, hat sie sich seit Dezember extrem zugespitzt. Milei hat als erste Amtshandlung per Dekret ein Gesetz abgeschafft, das Mieterhöhungen begrenzte und eine Mindestlänge für Verträge festlegte. Die Folge: Die Mieten sind förmlich explodiert, eine Vervierfachung ist keine Seltenheit. Viele Rentner*innen sind daher auf Unterstützung von Freund*innen oder Familie angewiesen. Man sieht immer mehr alte Menschen, die mit ihren Haustieren auf der Straße leben. Nach einem Bericht der Di-Tella-Universität in Buenos Aires sind in den ersten drei Monaten dieses Jahres zusätzliche 3,2 Millionen Menschen arm geworden. Insgesamt leben mittlerweile 48,3 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.
Wenige Straßenblocks vom großen Centenario-Park entfernt, wo sich sonntags Jung und Alt treffen, um Mate-Tee zu trinken, liegt in einer Hochparterre-Wohnung die Praxis von Alberto Schocron. Trotz Ruhestand arbeitet er weiterhin an drei Tagen pro Woche als Psychiater und Psychoanalyst. Bei selbstgemachter Ingwerlimonade erzählt er, er habe großes Glück. »Ich bin gesundheitlich in der Lage, meinen Beruf weiter auszuüben, in der Praxis zahle ich keine Miete und ich habe eine eigene Wohnung.« Sein Leben lang hat er sich für soziale Gerechtigkeit und umfassende Gesundheit engagiert. So leitete er HIV-Projekte und reiste dafür auch um die Welt. Noch heute arbeitet der Sohn eines Kochs ehrenamtlich im Krankenhaus. An seinen Patient*innen merkt Schocron, wie sich die Politik der neuen Regierung auf die Psyche auswirkt. Angst und Beklemmungszustände seien allgegenwärtig. Er höre von immer mehr Suiziden, auch unter Rentner*innen. Obwohl es dazu bislang keine belastbaren Zahlen gibt, ist die Verzweiflung an allen Ecken und Enden zu spüren.
Viele ältere Menschen haben den Heilsversprechen Mileis geglaubt und ihn gewählt. Auch wenn der Rechtsaußen bei den Rentner*innen nicht die notwendige Mehrheit in der Stichwahl bekommen hätte, gaben ihm im vergangenen November immerhin mehr als 47 Prozent ihre Stimme. »Schuld daran sind auch weite Teile der Privatmedien, die die peronistische Vorgängerregierung dämonisiert haben«, glaubt Schocron. Alles in allem gab die Regierung von Alberto Fernández kein gutes Bild ab. Die galoppierende Inflation, mangelnde Korruptionsbekämpfung und Krisen wie die Corona-Pandemie oder die Dürre 2022, die zu einer schlechten Soja-Ernte und damit geringen Steuereinnahmen führte, machten ihr zu schaffen. Das alles sorgte dafür, dass der politische Quereinsteiger Milei mit gut 55 Prozent der Stimmen das Rennen machen konnte. Doch täglich werden die Bekenntnisse von Menschen mehr, die bereuen, den Hardliner gewählt zu haben.
Die Proteste von Menschen im Ruhestand haben in Argentinien eine lange Tradition. Anfang der 90er Jahre, als der neoliberale Carlos Menem das Land regierte, fing die Aktivistin und vierfache Mutter Norma Plá an, mit Straßenblockaden für eine Erhöhung der Rentensätze zu streiten. Das war an genau jener Ecke des Kongresses, an der mittlerweile die Jubilado/as Insurgentes demonstrieren. Selbst der Fußballstar Diego Maradona gab zu Protokoll, er stehe bis zum Tod an der Seite der Rentner*innen.
In den 2010er Jahren sorgte die Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner für eine Mindestrente von umgerechnet rund 450 Euro und setzte viele weitere Forderungen der Rentnerbewegung um. Eine davon, die kostenlose Verteilung von Medikamenten, hat Milei jüngst gestoppt. Die Apotheken verzeichneten zudem im Januar einen Rückgang von bis zu 45 Prozent bei Verkäufen von Arzneimitteln.
Die Rentner*innen sind immer noch eine der Speerspitzen der progressiven Bewegung. »Wir demonstrieren auch gegen das aktuell herrschende Demoverbot«, sagt Schocron. Kaum im Amt hat Sicherheitsministerin Patricia Bullrich das Demonstrationsrecht massiv eingeschränkt. Versammlungen sind seit Dezember nur noch auf Bürgersteigen und Plätzen möglich. Straßen sind dem Autoverkehr vorbehalten. Die Rentner*innen drehen trotzdem ihre Runde um den Kongress – auf der Straße wohlgemerkt. Einmal ist die Gendarmerie schon mit Pfefferspray gegen sie vorgegangen. Das war Anfang April, als ein umstrittenes und zwischenzeitlich gekipptes Gesetzespaket im Parlament diskutiert wurde.
Entmutigen lassen sich die aktiven Senior*innen davon nicht. »Wir unterstützen alle, die unter dieser Regierung leiden«, erklärt Schocron. Zusammen gehen sie regelmäßig auf Demos von entlassenen Arbeiter*innen, waren beim internationalen Frauenkampftag am 8. März aktiv und zeigten Präsenz beim jüngsten Studierendenstreik. Dazu riefen die aufständischen Rentner*innen eine Tauschbörse für Medikamente ins Leben und organisieren regelmäßig Massenverteilungen von Großmarktgemüse für Menschen mit wenig Geld. Das jüngste Projekt ist der Schulterschluss mit der Kulturszene. Schocron plant eine Milonga, also eine Tango-Tanzveranstaltung. Denn der Unruheständler lebt nicht nur für den Aktivismus, er schwingt mit Leib und Seele das Tanzbein – ohne Krückstock, dafür aber mit jeder Menge Leidenschaft.
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