An Auschwitz erinnern - Doppelte Zeugenschaft

Die Ausstellung »›Ich will sprechen über die Wahrheit, die dort war.‹ Der Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965« fokussiert auf die Überlebenden

  • Lukas Geisler
  • Lesedauer: 7 Min.

Der 8. Mai ist der Tag, an dem in Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern der Befreiung vom NS-Regime gedacht wird. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus verlief nach 1945 allerdings schleppend. Einen Meilenstein bildete dabei der Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965. Mit diesem Ereignis befasste sich die Ausstellung »›Ich will sprechen über die Wahrheit, die dort war.‹ Der Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965«, die bis Ende April in Frankfurt zu sehen war.

Schätzungen zufolge waren zwischen 200 000 bis 500 000 Deutsche an der systematischen Verfolgung und Vernichtung der europäischen Jüd*innen und Juden beteiligt, heißt es in der Ausstellung. Rechne man die Urteile in der DDR und der Bundesrepublik zusammen, seien aus der Gruppe der Beteiligten an der Shoah lediglich 9000 Personen der deutschen Strafjustiz zugeführt worden: »Das entspricht einer Verurteilungsquote von 3,6 Prozent.« Auch von den 7200 SS-Angehörigen, die in Auschwitz tätig waren und zwischen 1941 und 1945 1,1 bis 1,5 Millionen Menschenleben vernichteten, wurden in Deutschland lediglich 61 und in Polen rund 670 Personen vor Gericht gestellt. Meist fielen die Urteile – vor allem in der Bundesrepublik – milde aus.

Kuratiert wurde die Ausstellung von einem Kollektiv, bestehend aus Florine Miez, Maximilian Steinborn, Alexander Toumanides, Anne Uhl und Anna Wolfinger. Ausgangspunkt der Ausstellung war ein Brief des deutsch-jüdischen Juristen Henry Ormond aus dem Januar 1963. Ormond setzte sich als Nebenkläger im Prozess für die Interessen und Rechtsansprüche von 15 NS-Opfern oder deren Angehörigen ein und wirkte an den Ermittlungen mit. In einem Brief an seinen polnischen Kollegen Jan Sehn informierte er diesen über den Stand der Ermittlungen zum Auschwitz-Prozess.

Ein antifaschistischer Staatsanwalt

Über Fritz Bauer, zu dem Zeitpunkt hessischer Generalstaatsanwalt und federführende Kraft bei der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen nach 1945 in Deutschland, schreibt Ormond, Bauer hätte nichts dagegen, wenn das für den Prozess selbst nicht geeignete Material in einer Ausstellung, »vorzugsweise im Studentenhaus der Universität«, verwendet würde. Diesem überlieferten Wunsch Fritz Bauers kam nun die Studierendengruppe zum 60. Jahrestag des Beginns des Auschwitz-Prozesses nach.

Während bis Ende der 50er Jahre keine systematische strafrechtliche Verfolgung der NS-Verbrechen stattfand, war es der 1949 nach Deutschland zurückgekehrte Fritz Bauer, der im April 1959 erwirkte, dass dem Landgericht Frankfurt die Zuständigkeit für alle in Auschwitz begangenen Straftaten übertragen wurde. »Bauers Ziel«, heißt es in der Ausstellung, war »ein Strafprozess, der die Dimension dieses Verbrechens sichtbar macht«.

Vier Jahre dauerten die Ermittlungen der hessischen Staatsanwaltschaft. Weltweit suchte das Team um Bauer – auch durch Aufrufe in Zeitungen und im Radio – nach Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz. 1500 Personen konnten so ausfindig gemacht werden. Im April 1963 legten die Staatsanwälte eine 683-seitige Anklageschrift vor. Für die Strafverfolger stand fest: Der Massenmord war fabrikmäßig organisiert, Vernichtung das vorrangige Ziel der Vorgänge in und um das Lagersystem Auschwitz. Die Kuratorin Miez hebt zudem hervor, dass »sich von Beginn der Ermittlungen an auf den Komplex Auschwitz konzentriert wurde«. Das Team um Bauer habe so Aufschluss über den systematischen Zusammenhang der Verbrechen erhalten wollen, erklärt sie weiter.

Am 20. Dezember 1963 begann schließlich der Frankfurter Auschwitz-Prozess, in dem sich 22 Angeklagte für ihre Beteiligung am Mordgeschehen in dem Vernichtungslager verantworten mussten. »Es ist der größte NS-Strafprozess in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte«, erzählt der Kurator Uhl. Im Laufe des Prozesses reisten 211 Überlebende des Vernichtungslagers nach Frankfurt, um als Zeug*innen auszusagen. Unter ihnen befand sich Imrich Gönczi, von dem das Zitat aus dem Titel der Ausstellung stammt: »Ich will sprechen über die Wahrheit, die dort war.«

Zwiespältige Erfahrungen

»Ins Zentrum der Ausstellung«, erklärt Miez, »wollten wir die Erfahrungen und Perspektiven der Überlebenden des Lagers stellen, also jener Menschen, die in den Jahren 1963 bis 1965 die Kraft fanden, meist aus osteuropäischen Ländern, den USA und Israel nach Frankfurt zu kommen, um ihre Geschichte zu erzählen und die Wahrheit über Auschwitz auszusprechen.« So zeigt die Ausstellung beispielsweise, wie der Auschwitz-Überlebende Willi Kormes die Erfahrungen mit der Vernehmung durch die Strafjustiz in lyrischer Form verarbeitete: »Mit meiner Aussage ist wenig anzufangen? Ach wäre ich doch nur nicht zu dieser Vernehmung gegangen!! Daß ich selbst wurde wie ein Stück Vieh tätowiert – Herr Staatsanwalt hat sie das nicht geniert?« Ein paar Zeilen später dann die offene Frage: »... und daß mein Körper bedeckt ist mit Narben von Schlägen und Hieben, die mir zur Erinnerung an Auschwitz blieben?«

»Das Gedicht zeugt davon, wie mit den Überlebenden in Frankfurt umgegangen wurde«, sagt Miez. »Viele der Überlebenden standen der Möglichkeit, vor Gericht auszusagen, zwiespältig gegenüber. Bei den Vernehmungen kam es immer wieder zu Spannungen und Missverständnissen zwischen Zeug*innen und insbesondere der Verteidigung.« Die Verbrechen lagen zu dem Zeitpunkt oft mehr als 20 Jahre zurück. Die Überlebenden hatten – verständlicherweise –, wie sie erklärten, Erinnerungslücken. Diese Erinnerungslücken wurden von der Verteidigung geschickt genutzt, um Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeug*innen zu schüren.

In der Ausstellung ist auch zu sehen, wie der Plenarsaal des Bürgerhauses im Frankfurter Stadtteil Gallus in den 60er Jahren aussah. Die Überlebenden, die als Zeug*innen aussagten, mussten den gesamten Saal durchqueren, um auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Links neben ihnen waren die Angeklagten und ihre Verteidigung platziert, vor ihnen auf einer Bühne die Richter und Geschworenen. »Das war für viele Zeug*innen eine große Hürde«, erklärt Uhl. »Dort sitzend mussten sie dann öffentlich ihre Erinnerungen an traumatische Gräueltaten und Misshandlungen teilen. Einige Zeug*innenaussagen mussten unterbrochen werden, weil die Überlebenden nicht weitersprechen konnten.« Emotionale Gefühlsäußerungen seien vom Gericht später als unzuverlässig eingestuft worden. »Dies wertete die erlebte Wahrheit jener Menschen ab.«

Ähnlich kritisch wie der Überlebende Willi Kormes äußerten sich auch andere Zeug*innen bereits während des Prozesses. Stanisław Kamiński, polnischer Journalist und als politischer Häftling von 1941 bis 1944 in Auschwitz interniert, reagierte auf den Versuch, ihn über Details zu befragen, die er unmöglich wissen konnte, mit der Aussage: »Ich bestehe darauf, dass es die Wahrheit ist, was ich gesagt habe.«

»Wenige der Zeug*innen lebten damals noch in Deutschland«, so Uhl. »Es kam immer wieder zu Verständnisproblemen aufgrund von Sprachbarrieren. Oft versäumte es das Gericht, Dolmetscher*innen zur Verfügung zu stellen. Auch hatten viele Vorbehalte und Ängste, vor einem deutschen Gericht auszusagen. Und allein die deutsche Sprache zu hören, stellte für viele eine Retraumatisierung dar.« Es gab zudem Zeug*innen wie die Archivarin Anna Palarczyk, die sich weigerten, auf Deutsch auszusagen.

Unterschiedliche Bewertungen

Nach 181 Prozesstagen verlas das Frankfurter Schwurgericht am 19. und 20. August 1965 das Urteil. Von anfänglich 22 Angeklagten wurden 17 wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord zu Zuchthausstrafen verurteilt, drei Angeklagte wegen »Mangels an Beweisen« freigesprochen, zwei weitere schieden aufgrund von Krankheit während des Prozesses aus. »Das Gericht bewertete die Taten der Angeklagten als individuell gewollte und nachweisbare Einzeltaten, die gesellschaftliche Dimension der Verbrechen in Auschwitz kam damit nicht zur Geltung«, berichtet Miez. »Der Prozess war nicht umsonst. Die überlebenden Gefangenen von ehedem haben die Wahrheit ans Licht gezogen«, sagte damals der Überlebende Karl Lill nach dem Ende des Auschwitz-Prozesses. Fritz Bauer selbst zog eine negativere Bilanz: »Die Strafen, die ausgesprochen wurden, lagen häufig an der Mindestgrenze des gesetzlich Zulässigen, was mitunter einer Verhöhnung der Opfer nahekam.«

»Man kann zu unterschiedlichen Schlüssen kommen«, bewertet wiederum Miez die Aussagen. »Manche argumentierten damals, dass in dem Klima des organisierten Vergessens bereits die Tatsache, dass es den Auschwitz-Prozess gegeben hatte, ein Erfolg war.« Hervorgehoben hätten diese Stimmen auch, dass durch die Prozessvorbereitungen ein Archiv für die Erforschung der Verbrechen entstanden sei, dessen Bedeutung für die Nachwelt gar nicht hoch genug bewertet werden könne – auch die jetzige Ausstellung habe darauf basiert. Miez erklärt weiter: »Bauer wollte gegen die ›Flut des bequemen Vergessens‹, die in der Nachkriegs-BRD herrschte, ankämpfen. Der Auschwitz-Prozess war ein Versuch, dieses Vergessen einzudämmen und die Deutschen mit ihrer Vergangenheit zu konfrontieren. Die Ausstellung möchte daran erinnern.«

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