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Schriftsteller Volker Braun: Der Zweifler
Der Schriftsteller Volker Braun unternimmt zu seinem 85. Geburtstag einen »Fortwährenden Versuch, mit Gewalten zu leben«
Es war kurz vor Volker Brauns jüngstem runden Geburtstag, als die Redaktion eines Kulturmagazins, für das ich zuvor nicht tätgig gewesen war, mit der Bitte auf mich zukam, ich möge den Jubilar zu einem Interview treffen. Redakteure warten immer mit einer guten wie mit einer schlechten Nachricht auf: Ich hätte nur eine Handvoll Tage Zeit, bis eine autorisierte Fassung vorliegen solle, werde ich in Kenntnis gesetzt; Braun aber sei bereits über alles informiert, mit allem einverstanden.
Wie zum Beweis wurde ich mit einer Berliner Festnetznummer versorgt, mittels derer ein Termin gefunden werden sollte. Braun meldet sich am Telefon – und weiß von nichts. Er bedauere, aber sein jüngstes Buch stehe kurz vor der Drucklegung. Da sei es unmöglich, Zeit für ein Interview einzuräumen, auch wenn er es gerne gemacht hätte.
Etwas unbeholfen unternehme ich noch einen Versuch: Ich käme zu jedem Ort seiner Wahl, aber auch ein Telefoninterview sei möglich; ich könne eine konzentrierte Gesprächsatmosphäre schaffen, in der wir uns binnen 25 Minuten über meine Fragen verständigen könnten. Braun lacht freundlich. Damit, meint er, verkenne ich vollkommen sein Naturell. Die Sache war zunächst gelaufen. Und der fantasiebegabte Redakteur, im Übrigen, war abgetaucht.
Ich hatte Brauns Naturell verkannt. Seit diesem ersten Telefonat, fünf Jahre liegt es zurück, sind unter dem Titel »Verlagerung des geheimen Punkts« eine Sammlung seiner Reden und Schriften erschienen, mit »Handstreiche« ein weiterer Band mit seiner unverwechselbaren Miniaturprosa, mit »Große Fuge« ein neuer Lyrikband und mit »Luf-Passion« ein dramatisches Gedicht.
Und was alles war in den sechs Jahrzehnten zuvor gedruckt worden (und was alles ungedruckt geblieben)! Nach proletarischen Anfängen und einem Studium der Philosophie machte Braun zunächst als Lyriker von sich reden, wechselte ins dramatische Fach, suchte als Dramaturg die Festanstellung am Theater, wurde Romancier und mit seinen »Werktagen« Chronist seines eigenen Arbeitens und Denkens. Seither wechselt er zwischen seinen verschiedenen künstlerischen Professionen. Unnötig, die unzähligen Werktitel hier summarisch zu notieren.
Braun erweist sich so einmal mehr als entfernt Verwandter seines Schriftstellerkollegen Peter Hacks, dem die schönen – der Literaturkritiker des dritten Jahrtausends würde sagen: autofiktionalen – Verse gelungen sind: »Ich kann auch nicht weniger schreiben, / Mir fällt zu vieles ein.« Mittlerweile erahne ich das Braun’sche Naturell.
Am Dienstag wird Volker Braun 85 Jahre alt, und ein neuer druckfrischer Band mit dem Titel »Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben« liegt in den Buchhandlungen bereit. Was ist das für ein eigenartiges Buch mit einem so programmatischen Titel? Exakt 100 Seiten nehmen Brauns Worte ein. Mit Sinn für die Form teilt sich das Buch in drei gleich große Abschnitte: »Versuch, mich auf einer Landmasse zu bewegen«, »Versuch, mich mit den Füßen am Boden zu halten« und – titelgebend – »Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben«. Jeder Teil wird mit einem Motto, mit mehreren Motti eingeleitet, denen eine Grafik beigestellt ist. Braun geht es nicht um das eine wahre Wort, bestechend klug formuliert, es muss auch durch einen Gegengedanken, durch ein Bild in Bewegung gebracht werden.
Braun zeigt sich dem Leser durch sein neues Buch als literarischer Essayist. Nein, so ganz glücklich getroffen ist es mit dieser Genrezuteilung nicht. Es ist eine erstaunliche handlungsarme Prosa, poetisch durchgearbeitet. Und was das ist, Poesie, stellt der Autor selbst klar in diesem Buch: »Die Poesie ist das Antidot der Zeremonien, der Formenzwänge.« In Dialogen und Zitaten, Lektüreeindrücken und eigenen Anschauungen, mit Blick auf die jüngste und auf die beinahe entrückte Vergangenheit, im Fokus auf das eigenen Empfinden und mit der Konzentration auf weit entfernte Gegenden, im Dialog mit sich selbst und den nachkommenden Generationen erweist sich Braun als umsichtiger, nur im besten Sinne umständlicher Autor.
Wie unelegant müsste es wirken, wollte man die Gedankengänge dieser drei Texte gerafft nacherzählen. Will man dieser besonderen Form der Literatur nachspüren, hilft zunächst nur Bescheidung, die dem eigenen Lektüreinteresse folgt.
»Versuch, mich auf einer Landmasse zu bewegen« etwa ist eine poetische Standortbestimmung, ein Nachdenken über das eigene Schreiben, von dem man nicht glauben mag, dass es losgelöst von Ort und Zeit existiert. Braun verabschiedet die eurozentrische Hybris, um doch immer wieder Verbindungslinien zwischen den Philosophien und Literaturen der Weltteile zu zeigen. Und am Ende fragt man sich: Ist Marx vielleicht der Name eines Weisen aus Asien?
Nachdem das »sowjetische Jahrhundert« verabschiedet ist, das Ende der Geschichte sich bei näherer Betrachtung aber eher wie ein Zwischenstopp ausnimmt, sehen wir mit Braun das »chinesische Jahrhundert« aufziehen. Sein Abgesang auf das Experiment Kommunismus, geziert mit der einen oder anderen Brecht-Paraphrase, kann man bei ihm, der das Poetische vor dem Zeremoniell bewahrt, auch als gedankliche Wiederaufstehung lesen. Indes: »Natürlich wird K verkehrt wiederkehren. In frühen rohen Versuchen eine blutige Möglichkeit, wird er allmählich bloße Notwendigkeit«, heißt es bei Braun. Zweifelnd nähert man sich beim Lesen der Erkenntnis.
Für diesen Autor, 85 Jahre alt, sollte man sich Zeit nehmen.
Volker Braun: Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben. Suhrkamp-Verlag, 100 S., geb., 20 €.
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