- Kultur
- »Bucket List«
Ein Theaterabend als Rettung
Das Stück »Bucket List« von Yael Ronen und Shlomi Shaban erzählt von einem Mann, der an einem Tag aufwacht und die Welt ist nicht mehr wie zuvor
Nach dem Applaus kommt die Autorin Carolin Emcke auf die Bühne. Sie ist vom Theatertreffen zu einem Impulsvortrag geladen, zu einem Außenblick auf das Musical »Bucket List« von Yael Ronen und Shlomi Shaban. Viel will sie aber nicht sagen, dafür Persönliches. Als sie die Arbeit im Dezember gesehen habe, sei sie von ihr aus einer emotionalen Lähmung, einer Taubheit gerissen worden. Endlich habe sie – nach dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober – überhaupt wieder etwas fühlen können. Ein Theaterabend als Rettung also.
Und heute? Emcke gesteht, Bedenken gehabt zu haben, noch eine Vorstellung zu besuchen. Was aber sah sie? Sie sah sich selbst im Dezember. Damals, als Ronen und Shaban sie aus der Gefühlsstarre rissen, hätte sie nicht geglaubt, dass die israelischen Geiseln nach einem halben Jahr noch immer nicht befreit sein würden und auch nicht, dass ein solches Leid über Gaza kommen würde.
Das klingt so, als wäre »Bucket List« ein explizit politischer Abend. Und das ist er auch, zugleich aber gar nicht. Erzählt wird die Geschichte eines Mannes namens Richard, der an einem Samstag aufwacht und die Welt ist nicht mehr wie zuvor. Er fühlt sich seltsam fremd und weiß nicht, woran es liegt. Damian Rebgetz, bei Ronen und anderen sonst eher für die heiteren Rollen gebucht, spielt diesen Richard mit sanfter Melancholie. Oft steht er einfach am Rande der Bühne und betrachtet traurig das Geschehen. Was ist mit ihm passiert? Hat er sich verändert oder hat sich die Welt verändert? Womöglich stimmt beides. Dieser Samstag könnte der 7. Oktober sein. Und es könnte zugleich der Tag sein, an dem sich Richard mit den Mitteln der Medizin gegen Erinnerungen wie die an das Massaker gewappnet hat.
Zu Beginn der 75-minütigen Vorstellung umschwärmen ihn die weiteren Spieler Ruth Rosenfeld, Carolin Haupt und Christopher Nell und erklären ihm singend, dass er sich endlich von seinen Traumata gelöst habe. Freilich um den Preis auch all seiner anderen Erinnerungen. Glück, Sicherheit, Freiheit – so die Botschaft des Abends – sind nurmehr möglich, wenn man im reinen Hier und Jetzt lebt, wenn der Blick in die grässliche Vergangenheit verstellt ist. Wie Buddha sei Richard nun, lebend nur noch in der puren Gegenwart. Wenn es denn so wäre! Vielleicht könnte dieses Musical dann tatsächlich eine Komödie sein. Aber als Nebenwirkung der Behandlung sind Erinnerungssplitter genannt, die sich in die Herzen Richards und der Zuschauer bohren.
Immer wieder fallen weiße Kleidungsstücke vom Schnürboden. Das Ensemble trägt sie umher, sammelt sie, bettet Baby-Strampler auf den Bühnenboden. Im Hintergrund laufen Videoprojektionen, es sind undeutliche Bilder, doch manchmal meint man Blitze und Explosionen zu erkennen. Noch deutlich expliziter ist ein Auftritt von Gitarrist Thomas Moked Blum. Er bildet zusammen mit Amir Bresler am Schlagzeug und Hila Kulik am Klavier die wunderbare Live-Band des Abends. In besagter Szene tritt er nun selbst ans Mikrofon und schlüpft in die Rolle eines Journalisten, der gerade dabei ist, eine Party zu feiern, als ein Auftrag ihn erreicht: Er soll über den Überfall eines Dorfs berichten, es habe ein schreckliches Blutbad gegeben.
Solche direkten Verweise auf den 7. Oktober stehen neben leichteren Szenen. Da geht es um ein Paar, das sich aus Eifersucht entzweit, um Trauer und die Besitzverhältnisse an Erinnerungen. Da genehmigt sich Richard sorgenlos ein Bierchen, als plötzlich »Reality« anruft und ihn zurück zu sich, also in die Wirklichkeit, ziehen will. Wie ein Telefonat zwischen zwei Ex-Partnern hat Ronen die Szene inszeniert. Ja, »Bucket List« ist durchaus ein witziger, oft auch trauriger und dabei kluger Abend. Und doch fehlt da etwas. Die Tiefe, die Emcke und mit ihr viele Zuschauer und Kritiker in dieser Produktion erkannten, als sie im Dezember herauskam, ist nur noch zu erahnen. Man sieht dem, was da auf der Bühne geschieht, stattdessen bereits deutlich seinen Alterungsprozess an. Das Ausstellen der eigenen Trauer und Hilflosigkeit in Anbetracht des Grauens hat an diesem Donnerstag im Mai keinen eigenen Aussagewert mehr. Was bleibt, ist hoch unterhaltsame und schmerzliche Ratlosigkeit.
Nächste Vorstellungen: 10. und 12.5.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.