• Kultur
  • Literarischer Stolperstein

Für Christenschelme die Zeche bezahlt

Raquel Erdtmann rollt den Justizmord an Joseph Süßkind Oppenheimer neu auf

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 4 Min.
Opfer frühen Antisemitismus: Joseph Süßkind Oppenheimer
Opfer frühen Antisemitismus: Joseph Süßkind Oppenheimer

Mit Stolpersteinen, den kleinen Gedenktafeln aus Messing, wird an das Schicksal der Menschen erinnert, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt und ermordet worden sind. Einen kriminalhistorischen und literarischen Stolperstein hat nun die Gerichtsreporterin Raquel Erdtmann dem Gedenken an Joseph Süßkind Oppenheimer gewidmet. Der ehemalige Finanzrat des Herzogs von Württemberg Carl Alexander war am 4. Februar 1738 in Stuttgart öffentlich hingerichtet worden. Die Obrigkeit hatte ein Volksspektakel initiiert, einen zwölf Meter hohen Galgen errichtet und einen eisernen Käfig für den Erhängten anfertigen lassen, in dem der Leichnam bis zum 19. März 1744 als Abschreckung zur Schau gestellt worden ist. So viel ist bekannt. Aus diesem Stoff wurden Romane verfasst und in der NS-Zeit ein infamer Propagandafilm gedreht: »Jud Süß«.

Raquel Erdtmann hat als erste Wissenschaftlerin die seit 1919 im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv zugänglichen, acht Regalmeter füllenden Prozessakten eingesehen und viele andere zeitgenössische Quellen herangezogen. Entstanden ist ein ergreifendes Buch, das von brutalem, rassistischem Antisemitismus und religiösem Antijudaismus im pietistischen Württemberg zeugt, damals ein wirtschaftlich rückständiges Ländle. Die politisch Verantwortlichen kannten die Tugenden der »schwäbischen Hausfrau« nicht, geschweige denn die Regeln einer ordnungsmäßigen Haushalts- und Buchführung. Worauf sich Herzog Carl Alexander den erfolgreichen jüdischen Geschäftsmann Joseph Süßkind Oppenheimer aus Fraankfurt am Main zum Berater erwählte und ihn mit der Modernisierung vor allem der öffentlichen Verwaltung beauftragte. Süßkind durchforstete also die zerrütteten Finanzen des Landes, enthüllte Schlampereien, Selbstbedienungs- und Vetternwirtschaft sowie mangelnde Transparenz. Da er keineswegs untertänigst und zaghaft Kritik übte, machte er sich viele Feinde.

Raquel Erdtmann beweist eine bemerkenswertes Fähigkeit, damalige finanzwirtschaftliche Zusammenhänge für heute nachvollziehbar darzustellen. Süßkind beschreibt sie als temperamentvollen und respektlosen, zuweilen auch polternden Fachmann. Seine Angestellten wählte er nicht nach Herkunft, sondern nach Qualifikation aus, ob Juden oder Christen. Ihm kam es auf Tüchtigkeit und Ehrlichkeit an. Sein Arbeitgeber, der Herzog, bewunderte ihn, ernannte ihn zum Finanzrat – ein hohler Titel – und lehnte wider Forderungen aus seinem Umfeld eine Entlassung seines Beraters ab. Süßkind handelte mit Edelmetallen und Diamanten, mit allem, was Erträge abwarf. Auch der Herzog war sein Kunde. Um dessen enormen Geldbedarf zu befriedigen, gab Süßkind dem Monarchen etliche Zuschüsse aus eigener Kasse. Selbst das Prägerecht, das er im Rahmen des herzoglichen Münzregals betreute, warf wegen der hohen Beschaffungs- und Logistikkosten kaum etwas ab. Süßkind musste oft in Vorleistung gehen. Im Prozess wurden solche Tatsachen jedoch ins Gegenteil verkehrt um dem Juden daraus einen Strick zu drehen.

Als der junge Herzog plötzlich starb, wurde Süßkind sofort verhaftet. Professionell zeichnet Raquel Erdtmann den elf Monate währenden Prozess nach, der hinter verschlossenen Türen stattfand und in dem Süßkind ein untüchtiger Verteidiger beigeordnet worden war, der zudem Parteienverrat beging. Die Autorin zitiert aus den Protokollen und belegt Süßkinds moderne, liberale Auffassung von strafprozessualen Regeln. Raquel Erdtmann misst das Verfahren an den damaligen Regeln der »Carolina«, aber auch am heutigen Rechtsverständnis. Deutlich wird, dass es sich um keinen fairen Prozess handelte; das Todesurteil stand von vornherein fest. Als der neue Herzog, Carl Rudolf, es unterzeichnete, soll er gemurmelt haben: »Es ist ein seltenes Ereignis, dass ein Jud für Christenschelme die Zeche bezahle.«

Die Haftbedingungen waren eine einzige Folter. Auch Süßkinds Freundin wurde verhaftet und gebar im Gefängnis einen Sohn, der dort bald mangels der geringsten Pflege starb. Sein Erzeuger erfuhr weder von dessen Geburt noch Tod. Süßkinds Mutter flehte den Herzog an, ihren Sohn vor der Hinrichtung noch einmal sehen zu dürfen. Dieser Wunsch wurde ihr gewährt, aber aus Schlamperei zu spät. Süßkinds Widerstand zerbrach auch im Angesicht des Todes nicht, alle Bekehrungsversuche zum Christentum prallten an ihm ab: »Ich sterbe als Jude.«

Raquel Erdtmanns Stolperstein für »Jud Süß« belegt ergreifend frühen Antisemitismus. Die Autorin zieht dabei manch erschreckende Parallele zum 200 Jahre späteren Völkermord der Nazis an den europäischen Juden.

Raquel Erdtmann: Joseph Süßkind Oppenheimer. Ein Justizmord. Steidl, 272 S., br., 24 €.

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