• Politik
  • Internationale Gesundheitspolitik

Warten auf das Pandemieabkommen

Nach ihrem vorläufigen Scheitern gehen die Verhandlungen über einen globalen Vertrag in eine Verlängerung

Als die Covid-19-Pandemie noch viele Länder in Angst und Schrecken versetzte, schien dies klar: Die Welt benötigt ein Übereinkommen, um künftig die grenzüberschreitende Ausbreitung von Krankheiten besser zu verhüten und zu bekämpfen. Die Fehler in der Coronakrise, als international zu spät auf die Ausbreitung des neuen Erregers reagiert wurde und viele Staaten nicht an lebensrettende Produkte kamen, sollten sich nicht wiederholen. Und so wurde der Vorstoß mehrerer Regierungen, darunter der deutschen, ein Internationales Pandemieabkommen auszuarbeiten, Ende 2021 von den 194 Mitgliedstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angenommen. Ein Verhandlungsgremium, kurz INB, wurde gegründet, das bis Mitte 2024 die Details klären sollte.

Doch der anfängliche Elan ist verpufft, denn die Erde hat sich weitergedreht: Covid-19 ist längst eine Infektionskrankheit unter vielen. Konflikte wie der Ukraine- oder der Gaza-Krieg sorgen für außenpolitische Konfrontation und gegenseitiges Misstrauen. Der ambitionierte Zeitplan für den Pandemievertrag stellte sich als nicht haltbar heraus. Mehrere Deadlines für die Einigung verstrichen. Ein zusätzlicher Anlauf wurde Anfang der vergangenen Woche unternommen, um doch noch, wie geplant, das Abkommen auf der 77. Weltgesundheitsversammlung beschließen zu können – das oberste Entscheidungsgremium der WHO tagt ab diesen Montag in Genf. »Ich denke, dies ist die letzte Meile«, gab sich die INB-Ko-Vorsitzende Precious Matsoso bei einer Pressekonferenz vor der neuen Runde optimistisch. Dies war wohl Wunschdenken, denn die Verhandlungen wurden am Wochenende ergebnislos beendet.

Unklar ist, was dies bedeutet und wie es nun weitergeht. »Das ist kein Scheitern«, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus zu den Delegierten. »Ihr habt wirklich viel geschafft, ihr seid weit gekommen.« Sie sollten Lehren aus den bisherigen Verhandlungen ziehen und weitermachen. Insider gehen davon aus, dass es wohl noch »einige Jahre« bis zu einem Abschluss dauern werde. In Genf solle jetzt zumindest ein neuer Fahrplan beschlossen werden.

Auch die internationale Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, die bei Krankheitsausbrüchen oft der erste und einzige Akteur vor Ort ist, um diese einzudämmen und Menschen zu behandeln, hält ein effektives Pandemieabkommen weiter für dringend notwendig. Dieses müsse »einen Zugang zu medizinischen Produkten für alle Menschen sicherstellen und die Bedürfnisse von Gesundheitspersonal sowie von Menschen in humanitären Kontexten berücksichtigen«, so Melissa Scharwey, Expertin für globale Gesundheitspolitik von Ärzte ohne Grenzen, gegenüber nd.DerTag. »Um dies zu erreichen, braucht es robuste Verpflichtungen, unter anderem für Technologie- und Wissenstransfer sowie verbesserte Transparenz. Außerdem müssen öffentliche Forschungsförderung an Bedingungen für gerechten Zugang geknüpft werden.«

Nicht nur die internationale Großwetterlage, sondern auch die Komplexität der Materie waren bei den Verhandlungen anfangs wohl unterschätzt worden. Der Vertrag, im jüngsten Entwurf auf 23 Seiten zusammengedampft, soll nämlich alles Mögliche regeln: von der Prävention über Vorsorgemaßnahmen beim Auftreten einer neuen Gesundheitsgefahr bis hin zu Reaktionen, falls es doch wieder zu einer Pandemie kommen sollte. Viele Player mischen mit: neben den Regierungen auch internationale Institutionen, private Financiers und die einflussreiche Pharmaindustrie, die ihre ganz eigene Agenda hat.

Um das Ganze noch verwirrender zu machen, wurde parallel über eine Reform der Internationalen Gesundheitsvorschriften diskutiert. Diese bestehen seit 1969 und wurden bereits mehrfach aktualisiert, zuletzt 2005. Darin geregelt ist, unter welchen Bedingungen die WHO eine »Gesundheitsnotlage von internationaler Tragweite« (im UN-Jargon: public health emergency of international concern, kurz Pheic) ausrufen darf und was daraus folgt. Hier vermeldete die WHO Mitte vergangener Woche einen Durchbruch: Zu den Hauptpunkten bestehe nun Einigkeit unter den Verhandlern, letzte Details würden bei dem einwöchigen Treffen in Genf geklärt.

Die UN-Organisation spricht jetzt von einem »umfangreichen, bahnbrechenden Paket von Änderungen«. Diese sehen unter anderem kürzere Fristen für die Meldung und Reaktion auf neu auftretende Bedrohungen vor. Staaten sollen die WHO über jedes Ereignis unterrichten, das eine Notlage auslösen kann, sowie Kapazitäten im Bereich der öffentlichen Gesundheit aufbauen. Das ist bitter nötig: Laut einer Studie der London School of Economics and Political Science nehmen aktuell nur 16 Prozent der 48 untersuchten Länder in ihren nationalen Rechtsvorschriften auf Pheic Bezug, was die Verhängung von Maßnahmen zur Eindämmung der grenzüberschreitenden Ausbreitung erheblich erschwere.

Die Änderungen sollen, wie es heißt, »die Fähigkeit der Länder verbessern, sich auf Gesundheitsnotstände vorzubereiten, diese zu erkennen und darauf zu reagieren«. Gleichzeitig soll die Beeinträchtigung des Reiseverkehrs und des Handels minimiert werden. Hierbei geht es weniger um ein ökonomisches als um ein praktisches Problem: Als Südafrika Ende 2021 fast in Echtzeit über das Auftreten der neuen Omikron-Variante von Sars-CoV-2 informierte, wurde es von einzelnen Ländern willkürlich mit Reisebeschränkungen überzogen. Obwohl man sich ganz anders als China zu Beginn der Corona-Ausbreitung vorbildlich verhielt, wurde man bestraft – so etwas soll sich nicht wiederholen.

Die WHO hat bisher siebenmal einen Pheic ausgerufen, etwa bei der Ebola-Epidemie in Westafrika 2014, der Zikavirus-Epidemie in Lateinamerika 2015 oder eben im Januar 2020 bei Covid-19. Während diese längst wieder für beendet erklärt wurden, ist der Polio-Notstand aufgrund der weiteren Ausbreitung nach zehn Jahren immer noch aktiv. In solchen Fällen berät ein Expertenausschuss über das weitere Vorgehen der WHO und gibt Empfehlungen für betroffene Länder ab. Bezüglich der Ausrufung einer Pandemie, also einer weltumspannenden Epidemie, gibt es bisher aber überhaupt keine Regelungen. Die Verhandlungen über ein Pandemieabkommen begannen daher quasi bei null, also der Definition, was überhaupt unter dem Begriff zu verstehen ist.

Über zahlreiche Aspekte wurde im Laufe der Verhandlungen Einigkeit erzielt: etwa die Frage von zeitnaher Datenweitergabe oder Kapazitäten zu Früherkennung und Prävention. Bei letzerer geht es unter anderem um den Ausbau von Überwachungssystemen der WHO. Die verbesserte Vorsorge erfordert laut Entwurf eine Stärkung der öffentlichen Gesundheitssysteme und die Beschäftigung von ausreichend ausgebildetem sowie entlohntem Gesundheits- und Pflegepersonal. Zudem soll die WHO ein Lieferketten-Netzwerk aufbauen, damit im Pandemiefall alle Länder das Material schnell bekommen, das sie brauchen, und nirgends Schutzausrüstung und anderes knapp wird.

Eine bessere Datenerhebung und klarere Kommunikation sollen auch der Desinformation entgegenwirken, welche die Corona-Maßnahmen erschwerte und seither eher noch zugenommen hat. So machen rechte Verschwörungsanhänger auch gegen das Pandemieabkommen mobil und behaupten seit Monaten, die WHO könne künftig wie eine Weltregierung jedem Land Lockdowns, Zwangsimpfungen oder Reisebeschränkungen verordnen.

Tatsächlich wird in Artikel 3 des Vertragsentwurfs die Souveränität der Länder bestärkt. Ohnehin würden Staaten wie China und Russland, aber auch die USA keinem Dokument zustimmen, das ihren Regierungen etwas vorschreibt. Daher ist im Entwurf viel von »sollen« und »mögen« die Rede, es finden sich meist Empfehlungen für die Staaten. Was insbesondere Praktiker nicht erst seit der Coronakrise als Problem feststellten, wird fortgeschrieben: die Machtlosigkeit einer unterfinanzierten WHO, die auf den guten Willen ihrer Mitgliedsländer angewiesen ist.

Kein Konsens wurde indes beim Thema One Health erzielt, das in zwei Artikeln des Vertrags geregelt werden soll. Dieser Ansatz besagt, dass die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt eng miteinander verknüpft ist, wie sich bei Antibiotikaresistenzen, aber auch dem immer häufigeren Überspringen von Erregern wie Sars-CoV-2 aus der Tierwelt zeigt. One Health ist bisher kaum über Debatten von Wissenschaftlern und Umweltaktivisten hinausgekommen, spielt auf der Ebene der Gesundheitspolitik kaum eine Rolle. Da es hier indirekt auch um Fragen der Landnutzung, Massentierhaltung und Tierhandel geht, gestalteten sich die Verhandlungen schwierig. Daher wurde dieser Bereich zuletzt aus dem Vertragsentwurf ausgeklammert und soll bis 2026 geklärt werden.

Das gilt ebenfalls für den Hauptstreitpunkt: die Frage eines gerechten Zugangs aller Länder zu Impfstoffen, Therapeutika und Diagnostika. Aufgrund der Erfahrungen in der Coronakrise verlangen Vertreter des globalen Südens einen gerechten Vorteilsausgleich, den ungehinderten Zugang zu medizinischen Gütern, effektive Regeln für den Technologietransfer und einen verbindlichen globalen Finanzierungsmechanismus. Dies wird besonders vehement von der »Group for Equity« vertreten, 29 Ländern mit Brasilien, China und Südafrika an der Spitze. Einige Länder des Nordens hingegen wollen ihre Möglichkeiten, sich im Ernstfall ausreichend zu versorgen, nicht beschneiden. Die forschende Pharmaindustrie, unterstützt von ihren Heimatländern, fordert wiederum ungehinderten Zugang zu Informationen über Erregerproben und Genomsequenzdaten, möchte ferner ihre Patente geschützt sehen und sich nicht in ihre Preispolitik hineinreden lassen.

Zuletzt wurde in den Verhandlungen ein Kompromissvorschlag vorgelegt: Demnach soll ein »Pathogen Access and Benefit Sharing« gewährleisten, dass Proben von Krankheitserregern weltweit ausgetauscht werden. Damit lassen sich Impfstoffe oder Medikamente entwickeln, die dann »gerecht verteilt« werden sollen. Von den Pharmafirmen wird als Gegenleistung für diese Informationen verlangt, dass sie Gebühren für den Aufbau dieses Systems bezahlt. Ferner soll sie im Pandemiefall zehn Prozent ihrer daraus entwickelten Produkte gratis an die WHO und weitere zehn Prozent zum verringerten Preis abliefern. Die UN-Organisation soll diesen Anteil an den »pandemiebezogenen Produkten« dann je nach Risiko und Bedarf der öffentlichen Gesundheit verteilen können.

Offenbar sind viele ärmere Länder nicht bereit, einem Rumpf-Abkommen mit Punkten, die für die Industrieländer besonders wichtig sind, und fehlender Verpflichtung zu gerechter Medikamentenvergabe zuzustimmen. Dabei erhalten sie Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen, aber auch aus der Wissenschaft: Die renommierte britische Medizinzeitschrift »The Lancet« kritisiert, nach dem Kompromissvorschlag würden die anderen 80 Prozent der Impfstoffe, Behandlungen oder Diagnosen weiterhin »dem internationalen Gerangel zum Opfer fallen, das bei Covid-19 zu beobachten war, als lebenswichtige Gesundheitstechnologien an den Meistbietenden verkauft wurden«. Dies sei »beschämend, ungerecht und ungleich«. Eine Handvoll mächtiger Länder sabotiere die beste Chance, die Lehren aus der Covid-19-Pandemie in rechtsverbindliche Verpflichtungen umzusetzen, die uns alle schützen.

Dabei taucht das Wort »Gerechtigkeit« im Entwurfstext neunmal auf, darunter als Leitprinzip des gesamten Übereinkommens. Und so ist das Lob von WHO-Chef Tedros für die Einigung bei den internationalen Gesundheitsvorschriften durchaus auch als Mahnung an die weiteren Verhandlungen zum Pandemieabkommen zu verstehen: »Die Länder haben die Mechanismen verbessert, um alle Menschen auf der Welt und künftige Generationen vor den Auswirkungen von Epidemien und Pandemien zu schützen, und sich zu Gerechtigkeit und Solidarität verpflichtet.«

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.