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- Ursprung des Lebens
Aus dem Wasser oder aus dem All?
Vor 100 Jahren veröffentlichte der sowjetische Biochemiker Alexander Oparin seine Theorie zum Ursprung des Lebens
Ein Stein, ein krabbelnder Käfer, ein künstliches Spielzeug – offenbar sind diese Objekte wesentlich voneinander verschieden. Sie gehören zu drei Reichen der Realität, von Philosophen auch »Schichten« (Nicolai Hartmann) oder »Bewegungsformen« (Friedrich Engels) oder noch anders genannt – nämlich die unbelebte Natur, die belebte Natur und das Humane (das Menschliche, insofern es die Natur überschreitet). Die Schichten sind auch Stadien der Entwicklung im Kosmos. Ungeachtet des bis heute aufgetürmten Wissens geben die Übergänge zwischen den Stadien immer noch Rätsel auf.
Vor 100 Jahren wurde erstmals eine wissenschaftlichen Standards genügende Theorie der Entstehung des Lebens auf der Erde vorgelegt. Der russisch-sowjetische Biochemiker Alexander Iwanowitsch Oparin (1894–1980) veröffentlichte eine solche 1924 in seinem Buch »Der Ursprung des Lebens« (in russischer Sprache). Eine Übersetzung ins Englische erschien 1936, eine ins Deutsche erst 1947. In nachfolgenden Schriften legte Oparin seine Theorie genauer dar. Diese sei hier unter Verwendung heutiger Begriffe skizziert:
Die einschlägige Entwicklung begann vor etwa vier Milliarden Jahren, als die frühe Erde so weit abgekühlt war, dass sich flüssiges Wasser auf der Oberfläche halten konnte.
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Die Atmosphäre bestand damals aus Wasserstoff, Wasserdampf, Methan, Ammoniak, Kohlendioxid und weiteren Gasen in geringerer Menge, enthielt aber keinen Sauerstoff. Sonneneinstrahlung, Vulkanismus, Meteoriten und elektrische Entladungen verursachten starke Energieflüsse. Die Erdatmosphäre wurde zu einem großen Chemiereaktor. Reaktionsprodukte regneten auf die Oberfläche herab.
Die zu lebender Materie hinführenden chemischen Prozesse spielten sich in wässrigen Lösungen ab. Oparin dachte dabei an den »Urozean«, aber auch andere Gewässer sind zu erwägen. Gelöste Mineralien und mineralische Oberflächen beförderten die Reaktionen. Aus dem gegebenen Stoffgemisch gingen erst einfache und dann immer komplexere organische Verbindungen hervor, schließlich auch Bausteine des Lebens – Proteine, RNA und DNA.
In einem entscheidenden Stadium fungierten kleine, im Wasser schwimmende Bläschen – Oparin nennt sie Koazervate – als Miniaturreaktoren und Miniaturdepots. Die organische Chemie kennt tatsächlich Bläschen mit den von Oparin angenommenen Eigenschaften.
Bereits im vorbiologischen Stadium der Koazervate fand eine Evolution nach Darwinschen Regeln – verkürzt natürliche Auslese genannt – statt. Eine chemische Evolution ging der biologischen Evolution voraus. Anschaulich ausgedrückt: Die Natur unternahm unvorstellbar viele »Versuche«; nur ein winziger Bruchteil von ihnen trug zur Entstehung des Lebens bei.
Die Entstehung des Lebens aus unbelebter Materie war Oparins großes Thema. Der Biologe und Biochemiker studierte und arbeitete ab 1912 an der Moskauer Universität. Seine diversen Funktionen, Direktorenposten und andere, ließen ihm ausreichend Freiraum dafür. Auslandsaufenthalte erweiterten seinen Horizont. Ab 1934 war Oparin Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, ab 1937 Professor für Biochemie. Von den vielfachen Ehrungen seien hervorgehoben: Oparin war Mitglied der Leopoldina seit 1956 und der Akademie der Wissenschaften zu Berlin seit 1966.
Experimentelle Bestätigung
Oparins Theorie wurde im Ausland mit Verzögerung zur Kenntnis genommen; die Grundzüge wurden auch unabhängig noch einmal entdeckt. Das gilt insbesondere für den vielseitigen englischen Biologen John B. S. Haldane (1892–1964) und sein 1929 erschienenes Buch »The Origin of Life«. Er erkannte später Oparins Priorität an. Bestätigung kam ferner von dem amerikanischen Chemiker Harold C. Urey (1893–1981), unter anderem durch sein Buch von 1952 »The Planets«. Urey als Ideengeber und sein Kollege Stanley L. Miller (1930–2007) als Praktiker führten 1953 das nach ihnen benannte berühmte Experiment durch, das Prozesse auf der frühen Erde nachstellen sollte.
Der Versuchsaufbau des Miller-Urey-Experiments sieht folgendermaßen aus: Ein großes Glasgefäß enthält Wasserstoff, Methan, Ammoniak, fallweise auch Kohlenmonoxid oder Kohlendioxid oder/und Stickstoff, aber keinen Sauerstoff. Mit dem Reaktionsbehälter verbunden ist ein Wasserkreislauf; Wasser verdunstet und kondensiert im Wechsel. Ein Lichtbogen im Reaktionsraum schließlich simuliert Gewitter. Das Ergebnis überstieg die Erwartungen der Experimentatoren: Zahlreiche organische Verbindungen – Alkansäuren, Aminosäuren und vieles mehr – fanden sich am Ende in dem Gefäß. Versuche vom Miller-Urey-Typ wurden später oft wiederholt, variiert, verfeinert. Stets waren sie im Einklang mit dem Oparin-Haldane-Szenarium. Dieses Paradigma hielt sich bis heute; Lücken wurden ausgefüllt und Details erforscht. Über den Schauplatz der Lebensentstehung gehen die Meinungen allerdings auseinander. Das Meer, Gezeitenbecken, Tümpel und noch andere Orte werden in Erwägung gezogen. Ein besonderer Kandidat sind sogenannte Hot Spots in der Tiefsee – Erdspalten infolge vulkanischer Aktivität, aus denen heiße Gase und Mineralien austreten.
Die Diskussion wird heutzutage dadurch mitbestimmt, dass Möglichkeiten von Leben auf anderen Himmelskörpern konkretisiert wurden. Von dieser Warte aus fällt auf, dass die irdische Lebewelt ziemlich gleichförmig ist. Die Vielfalt der Organismen ist eher äußerlich; biochemisch und genetisch sind alle Erdbewohner einander ziemlich ähnlich. Man geht so weit, einen einzigen »Urahn« anzunehmen; er hat schon einmal einen Namen bekommen: Luca. Das steht für »last universal common ancestor«, also den letzten universellen gemeinsamen Vorfahren. Sollte es Luca gegeben haben, so war es ein Bakterium oder eine ähnliche Mikrobe (nicht ein Individuum, sondern eine Population).
Meteoriten als Lebensbringer
Es könnte auch ganz anders gewesen sein, meinen einige Forscher. Vielleicht entstand das Leben nicht (oder nicht nur) auf der Erde, sondern Lebenskeime fielen aus dem Weltraum auf unseren Planeten herab und initiierten dort eine biologische Evolution. Mehr noch – vielleicht ist kosmische Wanderung von Lebenskeimen kein singuläres Ereignis, sondern ein verbreiteter natürlicher Vorgang, genannt Panspermie. Auch diese Hypothese stützt sich auf Tatsachen.
Kleinkörper (Sammelbegriff von Staub über Steinbrocken bis zu Asteroiden und Kometen) wandern in unserem Sonnensystem umher, manchmal aus ihm heraus, und fallen gelegentlich auf einen Himmelskörper (Planeten oder Mond). Sie können Lebenskeime – das heißt Sporen oder Organismen im Ruhe- und Wartezustand, genannt Latenz, – transportieren. Einige überstehen erwiesenermaßen Weltraumreisen, insbesondere wenn sie durch umgebendes Material geschützt sind.
Sporadisch schlagen Meteoriten Brocken aus einem Himmelskörper heraus, die dann durchaus Fluchtgeschwindigkeit erreichen können. Zum Beispiel wurden auf der Erde vom Mars stammende Gesteinsstücke gefunden. Lebenskeime könnten auf diese Weise von einem Himmelskörper zum anderen reisen.
Wider alle Erwartung können sich im kalten Weltraum, auf Kleinkörpern, organisch-chemische Reaktionen abspielen. Auf Asteroiden und Kometen wurden zahlreiche organische Verbindungen nachgewiesen, darunter viele aus der Biochemie bekannte.
Epidemien durch außerirdische Keime
Ein prominenter Vertreter der Panspermie-Hypothese war der berühmte schwedische Physiko-Chemiker Svante Arrhenius (1859–1927). In seinem Buch von 1908 »Das Werden der Welten« malt er Panspermie aus, wobei er Strahlungsdruck von der Sonne (oder von einem anderen Stern) als eine Bewegungsursache hervorhebt.
Die Astrophysiker Fred Hoyle (1915–2001) und Chandra Wickramasighe (geboren 1939) werden konkreter; sie stellen eine Verbindung zwischen Epidemiologie und Panspermie her. Sie meinen, dass immer wieder weltweite Epidemien durch Krankheitskeime ausgelöst werden, die aus dem Weltraum auf die Erde gelangen.
Sogenannte Transspermie ist eine abgeschwächte Variante von Panspermie, nämlich die Wanderung von Lebenskeimen zwischen benachbarten Himmelskörpern. Mars und Erde sind hierfür ernstzunehmende Kandidaten. Das Leben auf der Erde könnte vom Mars stammen. Dafür würde zweierlei sprechen: Manche Forscher meinen, dass Relikte des Lebens relativ plötzlich in der Erdgeschichte – soweit sie sich rekonstruieren lässt – auftauchen, als ob sie auf der Erde keine Vorgänger hatten. Außerdem hätte auf dem Mars Leben wesentlich früher als auf der Erde entstehen können. Denn er kühlte schneller ab, weil er deutlich kleiner ist, und er bot dann lebensfreundliche Bedingungen, insbesondere Wasser und eine Atmosphäre, die dichter als die heutige war.
Freilich verschieben Panspermie und Transspermie nur das Grundproblem; sie erklären nicht, wie Leben ursprünglich entstanden ist. Setzt man auf eine derartige Alternative, so ist die große Frage auf Anfang zurückgestellt.
Prof. Dr. Rainer Schimming hat an der Universität Greifswald Mathematik gelehrt und auf den Gebieten Mathematische Physik, Differentialgeometrie und Mathematische Biologie geforscht. Seit seiner Pensionierung 2010 hat er sich der Philosophie zugewandt.
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