Argentinien: Milei legt Axt an Universitäten an

Argentiniens Hochschulangestellte wehren sich mit Streik

  • Jürgen Vogt, Buenos Aires
  • Lesedauer: 4 Min.
Niemals Milei: Der Protest gegen die Kürzungspolitik des argentinischen Präsidenten Javier Milei bricht sich auf den Straßen Bahn.
Niemals Milei: Der Protest gegen die Kürzungspolitik des argentinischen Präsidenten Javier Milei bricht sich auf den Straßen Bahn.

Straße statt Hörsaal. So lautete für 48 Stunden die Devise für die Lehrkräfte der öffentlichen Universitäten in Argentinien. Stattdessen gab es zum Beispiel eine öffentliche Vorlesung vor dem Kongressgebäude im Zentrum von Buenos Aires, bei der der Grund für den Streik erläutert wurde. »Mehr als die Hälfte der Lehrkräfte und Nicht-Lehrkräfte leben heute unter der Armutsgrenze«, war dort zu hören. Eine Situation, die es »seit mehr als 20 Jahren nicht mehr gegeben hat.« Und nachdem die Regierung des ultrarechtslibertären Präsidenten Javier Milei bei den Lohnverhandlungen im Mai keine substanzielle Erhöhung zugesagt hatte, riefen die Hochschulgewerkschaften zu dem zweitägigen Streik am 4. und 5. Juni auf.

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Zwar haben die Hochschullehrenden und sonstigen Angestellten von Dezember bis Mai eine Gehaltserhöhung von rund 60 Prozent erhalten. Verglichen mit einer Inflationsrate von über 100 Prozent im gleichen Zeitraum bedeutet dies jedoch einen Kaufkraftverlust von mehr als 40 Prozent. Deshalb rutschen immer mehr der rund 220 000 Beschäftigten trotz Gehalt in die Armut ab.

Das Bildungsministerium wurde abgeschafft

Nach seinem Amtsantritt im Dezember hatte der Staatspräsident Javier Milei die Zahl der Ministerien halbiert. Bildung ist nun eines von fünf Sekretariaten, die dem neugeschaffenen Ministerium für Humankapital unterstellt sind. Damit hat Argentinien erstmals seit der Diktatur von Juan Carlos Onganía (1966–1970) kein Bildungsministerium mehr.

Die Bildungspolitik war ohnehin das kürzeste Kapitel im Wahlprogramm der Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) von Milei. In dürren Sätzen sind neun Punkte aufgelistet, die einer Sammlung von Schlagwörtern ähneln. Da ist die Rede vom Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen, mittels dem Bildungsgutscheinsystem ›Sistema de vouchers cheque educativo‹.

»In der idealen Welt gibt es ein Gutscheinsystem, du studierst und ich gebe dir die Gutscheine dafür. Du kannst wählen, ob du damit an eine private oder öffentliche Einrichtung gehst«, erklärte Milei im Wahlkampf. So muss auch niemand mehr Opfer einer Institution werden, »die mich mit marxistischem Müll indoktriniert«, fügte er hinzu.

Bislang ist im Hochschulbereich nichts vom Gutscheinsystem umgesetzt worden. Stattdessen grassiert die Sparpolitik. Milei kopierte für 2024 den Staatshaushalt von 2023 und verlängerte ihn einfach um ein Jahr. Damit blieben zwar die Zuweisungen in absoluten Zahlen konstant, doch die Jahresinflationsrate 2023 von über 200 Prozent führt 2024 real zu einem starken Verlust an Haushaltsmitteln. Das hat direkte Auswirkungen auf die damit in den einzelnen Bereichen finanzierten Löhne und Gehälter.

Es fehlt an Seife und Toilettenpapier

»Schon länger tauschen Kollegen und Kolleginnen ihre angesparten Dollar oder leihen sich Geld, nur um bis zum Monatsende über die Runden zu kommen«, sagt die Soziologin Guadalupe Seia, die seit zehn Jahren an der Fakultät der Sozialwissenschaften der Universität Buenos Aires unterrichtet. Dennoch war es zunächst weniger die prekäre Gehaltssituation, die den Hochschulrat zum Handeln zwang. Schon vor Monaten warnten die Universitätsdirektor*innen davor, dass die Universitäten geschlossen werden könnten: Sollte die Regierung die Mittel nicht aufstocken, könne nicht einmal mehr der Minimalbetrieb der Einrichtungen gewährleistet werden, allen voran die Unikliniken. Schon jetzt werde der Stromverbrauch in einigen Fachbereichen eingeschränkt oder die Beleuchtung der Räume und der Fahrstuhlbetrieb eingestellt. »Ich hatte sogar Kerzen zu der Vorlesung mitgebracht«, sagt Guadalupe Seia. Einfache Dinge wie Toilettenpapier und Seife in den Toiletten oder Kreide für die Tafel fehlten schon seit Monaten.

Aus Protest waren am 23. April rund zwei Millionen Menschen zum Marcha Federal Universitaria auf die Straße gegangen. Es war eine der größten Mobilisierungen seit dem Ende der Diktatur 1983. Allein in der Hauptstadt Buenos Aires marschierte schätzungsweise eine halbe Million Menschen vom Kongressgebäude zum Präsidentenpalast. Es war eine generationen-, klassen- und politikübergreifende Manifestation für das öffentliche und kostenlose Bildungssystem.

Trotz bisher zweier Generalstreiks der Gewerkschaften war der Marcha Federal Universitaria der erste ernsthafte Schuss vor den Bug des Präsidenten und seine Kürzungspolitik. Mit einem Anteil von zehn Prozent machen die Instandhaltungskosten der universitären Einrichtungen allerdings nur einen kleinen Teil der staatlichen Zuwendungen aus. Der große Batzen besteht aus Löhnen. Und während Milei bei der notwendigen Aufstockung der Mittel für den Mindestbetrieb der Hochschuleinrichtungen inzwischen eingelenkt hat, hält er bei den Löhnen bisher stur an seinem Austeritätskurs fest.

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