Die Basis soll aktiv werden

Von der Berliner Bethanien-Besetzung bis zum »Tatort« Münster: Ein Werkbiografie über den Filmregisseur Manfred Stelzer

  • Matthias Reichelt
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Basis machts: Kinder vor dem besetzten Bethanien in Berlin-Kreuzberg, dem Georg-von-Rauch-Haus, nach dem sich auch das erste Filmkollektiv von Manfred Stelzer benannt hatte.
Die Basis machts: Kinder vor dem besetzten Bethanien in Berlin-Kreuzberg, dem Georg-von-Rauch-Haus, nach dem sich auch das erste Filmkollektiv von Manfred Stelzer benannt hatte.

Manfred Stelzer war als Regisseur und Drehbuchentwickler immer ein Teamplayer gewesen, sagen viele Kolleginnen und Kollegen. Er ist am Set nie als Autokrat aufgetreten. Die Figuren, die er zusammen mit seinem Freund, dem Drehbuchautor Gert C. Möbius für den »Polizeiruf 110« entwickelte, waren sehr populär: Die beiden Kriminalkommissare Uwe Groth und Jens Hinrichs, die in Schwerin ermittelten, verkörpert von den Schauspielern Kurt Böwe (Groth) und Uwe Steimle (Hinrichs). Hier der mit DDR-Stoffbeutel bewaffnete Polizist als Eigenbrötler mit seiner stillen und fast anarchischen Skepsis gegenüber dem kapitalistischen Westen, der der DDR übergestülpt worden war, dort der übereifrige Kriminalkommissar und autoritätshörige Anpasser, der immer das ganz große Verbrechen vermutet und gerne von BKA und Rasterfahndung spricht. Dieses ungleiche, ja antagonistische Paar vertrat auf sehr sympathische Weise einerseits den Typus ehemaliger DDR-Bürger, die mit der sozialistischen Idee nicht abgeschlossen haben, und andererseits den Übereifer kapitalistisch Assimilierter.

Über den 2020 nach langer Krankheit verstorbenen Manfred Stelzer ist nun eine liebevoll gehaltene Monografie zu seinem Lebenswerk erschienen: »… und immer eine Prise Anarchie«. Herausgegeben wurde dieser lobenswerte Sammelband von Stelzers langjähriger Lebensgefährtin, der Kuratorin Beatrice E. Stammer, und dem Film- und Fernsehhistoriker Jan Gympel.

»Allein machen sie dich ein« – nach diesem Song von Ton Steine Scherben ist ein Dokumentarfilm über die Teilbesetzung des stillgelegten Krankenhauses Bethanien in Berlin-Kreuzberg im Dezember 1971 benannt. Regie führte ein »Georg-von-Rauch-Haus-Kollektiv«, bestehend aus Susanne Beyeler, Rainer März und Manfred Stelzer. Die Besetzer hatten das Bethanien nach dem kurz zuvor bei einer Polizeiaktion erschossenen Georg von Rauch benannt, der von den »Umherschweifenden Haschrebellen« kam, aus denen dann die bewaffnete Gruppe »Bewegung 2. Juni« wurde. Die Scherben wiederum widmeten den Besetzern den »Rauch-Haus-Song«, das eins ihrer bekanntesten Lieder wurde.

Rainer März und Manfred Stelzer hatten sich Anfang der 70er Jahre in England aufgehalten und wurden stark beeinflusst von dem britischen Filmkollektiv Cinema Action, das sich 1968 mit Filmen über die Pariser Mai-Unruhen, aber auch gegen die Rentenkürzungen in Großbritannien hervortat. Ebenso wie das britische Kollektiv verzichteten Beyeler, März und Stelzer bei ihrem Bethanien-Film auf Kommentare und wollten mit Bild und O-Ton den Besetzern einen kämpferischen Ausdruck verleihen. Man könnte sagen, sie begriffen Regie als eine Waffe.

Manfred Stelzer und Susanne Beyeler führten 1975 mit Manfred Salzgeber, der damals in Westberlin die ersten Programmkinos gegründet hatte, ein Gespräch über ihre kollektive Arbeit, in dem Stelzer auf die Frage nach der politischen Linie antwortete: »Wir haben schon eine Linie, und die ist in jedem Film drin. Wir wollen immer versuchen, dass die Basis, ob das Gewerkschaft ist oder Jugendliche, aktiv wird. (…) Eine Sache, die wir erreichen wollen und die wir erreicht haben, dass die Kollegen den Film auch als Teil ihres Kampfes sehen.«

Manfred Stelzer wurde 1944 in Bayern in einfachen Verhältnissen geboren. Er machte eine Ausbildung zum Chemielaboranten und fasste früh den Entschluss, Filmemacher zu werden. Ohne Abitur gelang ihm die Aufnahme bei der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB), wo er anfangs Dokumentarfilme über Menschen und Gruppen drehte, die sonst nie im Scheinwerferlicht stehen. Diesem Ansatz ist er bis zu seinem Tod treu geblieben, ebenso dem Konzept, Film als Teamarbeit zu verstehen. Dazwischen liegt eine herausragende Karriere mit knapp 100 Filmen.

Große Beachtung fand 1979 der Dokumentarfilm »Monarch«, den Stelzer in enger Kooperation mit Johannes Flütsch bei Regie, Buch/Konzept, Kamera und Ton realisierte. Nach ihren gemeinsamen Dokumentarfilmen über Lkw-Fahrer und Beschäftigte beim Jahrmarkt widmeten sie sich dem professionellen Automatenspieler Diethard Wendtland, der mit seinem Wagen quer durch die Bundesrepublik fuhr und erfolgreich die Geldspielautomaten des Typs »Monarch« ausnahm und so seinen Lebensunterhalt bestritt.

Nach diesem tragikomischen Dokumentarfilm, dessen Produktion Regina Ziegler übernommen hatte und der vor der TV-Ausstrahlung auch im Kino Erfolge feierte, wechselte Stelzer in das Genre des Spielfilms. Zusammen mit dem Schriftsteller Ulrich Enzensberger schrieb er das Drehbuch für »Die Chinesen kommen« (1986), produziert von Klaus Volkenborn, mit dem wunderbaren Hans Brenner in der für ihn typischen Rolle eines Industriearbeiters. Als Vorlage für die Geschichte der Demontage eines ganzen Industriewerks, das nach China verlagert wird, diente das bayerische Zündapp-Werk für Zweitaktmopeds, das 1984 Insolvenz hatte anmelden müssen und komplett zerlegt nach China verlegt worden war.

Es folgte »Superstau« (1991) mit Ottfried Fischer: ein Spielfilm, der mit etwas sehr schenkelklopfendem Humor davon erzählt, wie auf einem bayerischen Autobahnabschnitt auf dem Weg in den Urlaub Ost und West aufeinandertreffen, weil es nicht vorangeht. Danach widmete sich Manfred Stelzer immer stärker dem Fernsehen, um dort mit anarchischem Humor seine Geschichten von sympathischen Verlierern, Schlitzohren und Aufmüpfigen zu erzählen, bis hin zu solchen Erfolgsserien wie »Wolffs Revier« und dem »Tatort« Münster.

»Mannis Filme sind ehrlich. Wie der Blues. Manni liebt seine Figuren, mit all ihren kleinen oder großen Schwächen. (…) Sie haben immer auch etwas mit ihm zu tun. Mit seinen Erfahrungen, Träumen, aber auch manchmal mit seiner Wut« – so gratulierte Klaus Volkenborn seinem Freund Manfred Stelzer zum 50. Geburtstag. In dem Buch gibt es viele solcher Beiträge und Erinnerungen, unter anderem von Kurt Böwe, Gerd Conradt, Doris Dörrie, Harun Farocki, Axel Prahl und Elke Sommer.

Die Herausgeber haben diese Werkbiografie mit einem sehr guten Apparat versehen, der alle Filme Stelzers mit Inhaltsangabe, dem kompletten Produktions- und Schauspielerstab auflistet, neben den Daten der Kinopremiere bzw. Erstausstrahlung.

Beatrice E. Stammer/Jan Gympel (Hg.): … und immer eine Prise Anarchie. Manfred Stelzer und seine Filme. Büchner-Verlag, 336 S., br., 35 €.

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