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Europa, wo liegt das?
Karten, Sprachen, Verbrechen, Filme und Münzen – was das nd-Feuilleton mit dem einzigen Kontinent, der ein Parlament wählt, verbindet
Durch Europa scrollen
Haben Sie schon einmal von Reddit gehört? Wenn nicht: Sie müssen sich nichts vorwerfen. Reddit ist eine Internetplattform, ein Forum, in dem täglich Millionen von Menschen aus aller Welt ihre Lebenszeit verschwenden. Hinter meist algorithmisch generierten Nutzernamen tauschen sie sich anonym in unzähligen sogenannten »Subreddits«, also Unterforen, über Rezepte und Prominente aus, diskutieren über ihre Lieblingspodcasts oder beleidigen sich nach Herzenslust. Einer der von mir abonnierten Subreddits heißt »Map Porn«, zu Deutsch »Landkarten-Pornografie«. Um Pornos im engeren Sinne handelt es sich allerdings nicht: Man kann sich im »Map Porn«-Subreddit, solange man will, Landkarten ansehen, die die Unterschiede zwischen den europäischen Ländern in Bezug auf einen bestimmten Aspekt visualisieren. Würde man pausenlos weiterscrollen, reichte der Vorrat an Karten bestimmt bis ans Lebensende.
Ein Podcast, der dich anlässlich der Europawahl 2024 ins »Herz« der EU mitnimmt. Begleite uns nach Brüssel und erfahre mehr über Institutionen wie das Europäische Parlament, was dort entschieden wird und warum dich das etwas angeht. Der Podcast ist eine Kooperation von »nd«, Europa.Blog und die-zukunft.eu. Alle Folgen auf dasnd.de/europa
Ich liege also etwa eines Abends im Bett und habe offensichtlich nichts Besseres zu tun, als mir eine Karte anzusehen, die zeigt, in welchen europäischen Ländern man Katzen Hunden vorzieht und in welchen Hunde Katzen. Deutschland ist ein Katzenland, lässt sich entnehmen, während man in Großbritannien an Hunden hängt. Eine andere Karte zeigt den jeweiligen Anteil von Gefängnisinsassen an der Gesamtbevölkerung. Ungarn, die Türkei und Moldau sind Spitzenreiter, während etwa Deutschland, die Schweiz und die skandinavischen Länder vergleichsweise wenige Gefangene zu bieten haben. Die größten Schurken wie Orbán und Erdoğan sperren eben auch die meisten Leute ein, räsoniere ich – und scrolle weiter. Nun fällt mir eine Karte ins Auge, auf der die Länder danach eingefärbt wurden, wann in ihnen der letzte Bürgerkrieg stattfand. Für Deutschland wird offenbar die Novemberrevolution als Bürgerkrieg klassifiziert. Große Unterschiede zeigen sich auf dem Balkan: Mit dem Albanischen Aufstand von 2001 ist Nordmazedonien das einzige europäische Land, das einen Bürgerkrieg in diesem Jahrtausend verzeichnet, auf Kroatiens Staatsgebiet hingegen fand der letzte im 11. Jahrhundert statt. Interessant, denke ich, bloß im Grunde für die in Kroatien lebenden Menschen irrelevant, denn Krieg hatten sie ja trotzdem, nur eben keinen, der auf das eigene Staatsgebiet beschränkt gewesen wäre. Es ist spät. Vielleicht hätte ich mich lieber mit einem italienischen User über die beste Carbonara streiten sollen. Morgen ist ein neuer Tag – auch auf Reddit. Larissa Kunert
Als die Gauloises noch geholfen haben
Am meisten über Europa habe ich im Französisch-Unterricht gelernt. Grammatik und Aussprache waren wichtig, aber die Freundschaft der Mittelstandskinder links und rechts vom Rhein ist der Hochleistungsmotor Europas, das sollten wir verstehen. Man stelle sich einen nordbadischen, wohlgenährten älteren Herrn mit Wurstsalat-Streifen im Mund vor, der »Froschschänglfrässa« brüllt, sobald er »Frankreich« hört, oder alternativ: »Erbfeind!« Dagegen düsten einige von uns alle Jahre wieder zum Schüleraustausch. Wir stellten fest: Unser Französisch ist nicht »gut«, nur weil das auf dem Zeugnis steht. Nächster Schock: Der Franzosen Deutsch war im Vergleich noch schlechter. Und als »i-Tüpfele«, wie man in Baden sagt: Die lernen gar nicht richtig Englisch. Die hören lieber Hip-Hop in eigener Sprache und ihre Chansons klingen gar nicht so peinlich wie unser Schlager. Das sorgte schnell dafür, dass wir tatsächlich bemüht waren, uns verständlich zu machen; die französischen Jugendlichen langsam und klar sprachen, weil’s sonst sehr schweigsam würde. Wenn man gute Gasteltern erwischt hatte, stand kleinen Partys am Wochenende nichts im Wege, man will ja was bieten. Erstaunlich hilfreich waren hier unschuldige Mengen Alkohol, ein bisschen Ziehen an den Gauloises älterer Gastgeschwister. Danach ging’s flüssiger mit dem Reden und man ging miteinander nicht mehr um, wie europäische Austauschschüler im Auftrag abstrakter Völkerfreundschaft, sondern wie Jugendliche, die ein paar schöne Tage miteinander verbringen wollten. Vincent Sauer
Das deutsche Schweigen
In dieser Woche fanden die Gedenkveranstaltungen zum D-Day vor 80 Jahren statt, die Landung der Westalliierten in der Normandie und damit die Eröffnung der Zweiten Front gegen die Nazis. Eigentlich hätte es Anlass sein müssen, die militärische Leistung der Anti-Hitler-Koalition, deren Hauptlast an der Ostfront die Rote Armee trug, insgesamt zu würdigen. Doch in den Ansprachen der Regierungsvertreter wurde allein auf die heroische Leistung der westalliierten Streitkräfte hingewiesen. Die Rolle des europäischen Widerstands, der Frauen und Männer in den Partisaneneinheiten, wurde schlicht »vergessen«, ebensowenig waren – wie schon vor fünf Jahren die Hauptvertreter der sowjetischen Streitkräfte, die Repräsentanten Russlands nicht eingeladen, aber der ukrainische Präsident Selenskyj. Immerhin wurden die Pläne, auf dem historischen Areal eine Art D-Day-Disneyland aufzubauen, erst mal gestoppt, nachdem antifaschistische Veteranenverbände protestierten. Sie erinnerten auch daran, dass wenige Tage nach der Landung in der Normandie die SS Massaker in Tulle und Oradour-sur-Glane verübten, die in der BRD jahrzehntelang verschwiegen wurden. In Oradur ließ SS-Brigadeführer Heinz Lammerding den gesamten Ort abbrennen und sämtliche Einwohner töten: Männer, Frauen, Greise, Kinder, Babys, fast niemand entkam. Obwohl in Frankreich wegen Kriegsverbrechen verurteilt, blieb er in der BRD straffrei. Bis heute fehlt jegliche Erklärung einer bundesdeutschen Regierung, die die deutsche Verantwortung für dieses Verbrechen anerkennt – ebenso wenig die Kriegsverbrechen in Griechenland, Italien und im ehemaligen Jugoslawien. Karlen Vesper
Amerika gegen Europa
Als ich das erste Mal in den USA war, schaute ich den Atlantik von der anderen Seite an. Ganz weit da hinten musste irgendwo Europa sein. Ein merkwürdiges Gefühl, gesteigert von meiner Freundin, die im Stars-and-Stripes-Badeanzug in die Fluten lief. Darin sah ich sie zum ersten Mal. In Florida, wo sie ein Stipendium hatte und ich sie besuchte. Ansonsten erschienen in den USA viel neuer zu sein als ich erwartet hatte. Ich kannte schon die Schulbusse, die Briefkästen, das Budweiser, die Supermärkte, ja sogar die schmale Straße der Keys, auf der man links und rechts das Meer sieht. Und auch Disney World und Cape Canaveral. Ich hatte das alles schon mal im Fernsehen und im Kino gesehen, in Tausenden von US-Filmen und Serien. Was ich noch nicht wusste, war beispielsweise, dass man dort auf der Autobahn auch rechts überholen darf. Und dass die Portionen in Restaurant und Imbiss tatsächlich so groß sind, wie es Homer Simpson seinem Sohn erklärt hat: »Bart, wir sind in Amerika! Hier kann jeder essen, was er will, solange er zu viel davon isst.« Tatsächlich habe ich im sogenannten alten Europa, egal, ob nun in Süd-, Nord-, Ost-, Mittel- oder Westeuropa, mehr Überraschungen als in den USA erlebt. Reale Dinge, die ich nicht kannte oder wusste oder nicht für möglich gehalten hätte. Weil sie weder im Fernsehen noch im Kino präsentiert wurden, oder ich hab sie dort nicht gesehen, weil ich im Zweifelsfall den Film aus den USA schaue, weil er mich seltener enttäuscht. Europa kann mich aber öfters erstaunen. Auch wenn hier weder Rock ’n’ Roll noch Hip-Hop erfunden wurden. Aber Pommes, Döner und Pizza, immerhin. Christof Meueler
Achtung, Achtung!
Es gibt diesen einen Sketch von Hape Kerkeling, in dem es um eine Durchsage auf dem Petersplatz im Vatikan geht. Die Gläubigen werden darin angehalten, bitte zum gemeinsamen Abendgebet mit dem Papst auf dem Platz zu bleiben. Kerkeling kann die verschiedenen Sprachen der Durchsage perfekt imitieren: Italienisch, Spanisch, Französisch, Polnisch, Russisch, Niederländisch. Alles klingt, obwohl man ja mindestens die Hälfte nicht versteht, einigermaßen melodisch. Tja und dann kommt Deutsch: »ACHTUNG, ACHTUNG«. Ein Singsang wie Schäferhundgebell. Das ist das harmlos Schöne an Europa: Die verschiedenen Sprachen. Am allerschönsten aber sind die Lehn- oder Fremdwörter. Die Russen sagen »Butterbrot« zum Butterbrot, die Briten benutzen das Wort »Schadenfreude«. Na ja und das Deutsche hat quasi die Hälfte vom Lateinischen und Französischen übernommen (und klingt trotzdem noch nach Schäferhund). Aber wo Licht ist, da ist auch Schatten, und wer schon einmal in Frankreich auf Schulfranzösisch nach dem Weg zum Bahnhof gefragt hat, der wird wissen, dass es Franzosen gibt, die, wenn man statt »la gare« »le gare« sagt, so tun, als hätten sie den ganzen Satz nicht verstanden. Genauso unangenehm ist die deutsche Angewohnheit, davon auszugehen, dass »der Pole« auf jeden Fall Deutsch spricht. Es gibt da diesen Verwandten, der sein Fleisch beim polnischen Metzger per Whatsapp auf Deutsch bestellt, selbst aber nicht mal »Dzień dobry« hinbekommt. Und dann gibt es noch die Sprachen, die es so gewollt haben, dass man sie niemals lernen will, so wie Ungarisch mit seinen 378 grammatischen Fällen und einem Sprachursprung sonst wo im All. Während »Polizei« in fast allen europäischen Sprachen irgendwie ähnlich klingt, heißt es auf Ungarisch: »rendőrség«. Aber wir gehen ja eh davon aus, dass dort alle Deutsch sprechen. Christin Odoj
Werte wandeln sich
Die deutschdemokratischen Alumünzen waren mir als Spielgeld noch sehr gegenwärtig. Zählen, rechnen, feilschen habe ich aber mit der Deutschen Mark gelernt, die in ihrer strengen Formensprache schon damals abstoßend auf mich wirkte. Und plötzlich tat sich etwas. Kurz nach der Jahrtausendwende redeten alle vom Euro. Meist mit Angst und Schrecken in der Stimme. Ich aber freute mich, denn ich bekam ein sogenanntes Euro-Starter-Kit, mit dessen Hilfe man sich mit der neuen Währung vertraut machen sollte. Für mich bedeutete das aber auch ein außerplanmäßiges Taschengeld in Höhe von 10,23 Euro – eine Menge Geld (Danke, Mama!). Außerdem erhielt ich ein Euro-Sammelalbum, in das die länderspezifischen Münzen der zunächst zwölf Euro-Staaten aufbewahrt werden konnten (Gesamtwert: 46,56 Euro). Verwandte steckten mir Nachwuchsnumismatiker in Folge Exotika aus ihren Geldbörsen zu (Danke!).
Wenige Jahre später klaubte ich die zusammengetragenen Münzen heraus und finanzierte so meinen jugendlichen Zigarettenkonsum. Das Album leerte sich, Tabakprodukte wurden allerdings immer teurer (Danke, Hans Eichel!). Seit geraumer Zeit entsage ich der Raucherei. Werte wandeln sich bekanntlich. Was diese Union zusammenhält, das habe ich allerdings gelernt, ist vor allem Geld (Danke, Europa!). Erik Zielke
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