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Rechtsruck mit leichtem Gegenwind
Die wenigen Erfolge können die anhaltende Defensive der Linksparteien in Europa und die Existenzkrise einzelner Parteien nicht überdecken
Mehr als 350 Millionen Menschen hatten die Möglichkeit, vom 6. bis 9. Juni bei den Europawahlen ihre Stimme abzugeben. Immer wieder wurde auch von Linken betont, dass Europawahlen keine Wahlen zweiter Ordnung sind – sie werden längst strategisch genutzt.
Selbst wenn auch diese Wahlen vor allem durch nationale Wahlkämpfe geprägt waren, standen doch andere Themen im Mittelpunkt der Europawahl: Sicherheit angesichts von Kriegen, Krisen und sozialen Umbrüchen, Zuwanderung und Klimawandel. Alle diese miteinander verbundenen Herausforderungen lassen sich nicht national lösen. Zugleich aber sind wirksame und mehr noch erfahrbare europäische Lösungswege kaum sichtbar angesichts der globalen Auseinandersetzungen.
Ein Podcast, der dich anlässlich der Europawahl 2024 ins »Herz« der EU mitnimmt. Begleite uns nach Brüssel und erfahre mehr über Institutionen wie das Europäische Parlament, was dort entschieden wird und warum dich das etwas angeht. Der Podcast ist eine Kooperation von »nd«, Europa.Blog und die-zukunft.eu. Alle Folgen auf dasnd.de/europa
Dort, wo aktuelle Politik keine Lösungen aufzeigen kann oder wo politisches Handeln versagt, treibt sie die Wähler nach rechts. Letztlich sind Wahlen immer auch eine Abstimmung darüber, welchen Parteien am ehesten eine Lösung der anstehenden Probleme zugetraut wird oder welche Parteien im politischen System, gegebenenfalls auch als Oppositionsparteien, als Gegengewicht zur herrschenden Politik, gebraucht werden.
Wie stellt sich das Bild insgesamt dar?
Die Europäischen Konservativen (EVP) bleiben mit 184 Abgeordneten (MEP) stärkste Fraktion im Europaparlament und bauen diese Führung leicht aus. Die Sozialdemokraten/Sozialisten bleiben mit 139 MEP auf dem Niveau von 2019. Die Liberalen verlieren 22 MEP und sind nunmehr noch drittstärkste Kraft mit 82 Sitzen. Die Grünen verlieren 19 MEP und landen mit 53 Abgeordneten hinter den beiden Fraktionen der extremen Rechten auf dem vorletzten Platz.
Die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR) kann auf leichte Zuwächse verweisen und ist nunmehr mit 71 MEP im Europaparlament (EP) vertreten. Auch die rechtsextreme Identität und Demokratie (ID) hat 9 Mandate dazugewonnen und präsentiert sich im EP nunmehr mit 58 MEP.
Die Linksfraktion erscheint nahezu unverändert mit dem Verlust von einem Mandat als kleinste Fraktion mit 36 Abgeordneten.
Zuwachs für Rechtsfraktionen
Hinter diesen Zahlen stehen jedoch dramatische Veränderungen – vor allem auch bei der Linksfraktion. Die Fraktionen der Rechten haben dazugewonnen, jedoch nicht in dem Maße wie prognostiziert – und vor allem nicht überall.
In Italien wurde Melonis Fratelli d’Italia mit knapp 29 Prozent stärkste Partei. Der Rechtsblock umfasst jedoch mit Salivnis Lega (9) und mit Forza Italia (früher Berlusconi, ebenso 8,8) insgesamt mehr als 47 Prozent der Wähler.
In Frankreich geht die führende Rolle von Le Pens Rassemblement National (RN) mit 31,5 Prozent der Stimmen einher mit dem Absturz von Macrons Rèvellier l’Europe auf knapp 14 Prozent. Auch in Frankreich umfasst der Rechtsblock mit RN und der Rechtskoalition La France fière (Stolzes Frankreich), zu dem auch der rechtsextreme Eric Zemmour gehört, knapp 37 Prozent.
In Österreich ist die Freiheitliche Partei (FPÖ) trotz aller Skandale mit über einem Viertel der Stimmen stärkste Kraft und geht mit diesem Ergebnis im Oktober in die Nationalratswahlen.
In Deutschland blieb die AfD trotz aller Skandale, trotz der Dokumentation von Correktiv über die Pläne der Deportation mit 15,9 Prozent zweitstärkste Kraft und wurde stärkste Kraft in den ostdeutschen Bundesländern – ganz sicher mit Auswirkungen auf die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen.
In Ungarn ist die Fidesz noch immer mit über 44,3 Prozent führende Partei. Allerdings entwickelt sich mit dem früheren Fidesz-Mitglied Péter Magyar und seiner Mitte-rechts verorteten Respekt- und Freiheitspartei (Tisza) jedoch ernsthafte Konkurrenz. Die polnische nationalkonservative PiS blieb mit 35,7 Prozent hinter der proeuropäischen konservativen Bürgerplattform (KO, 37,4).
Von einem unbegrenzten Aufstieg der extremen Rechten kann also keine Rede sein. Das Bild ist differenzierter. So gelang es in den Niederlanden der links-grünen Allianz unter Frans Timmermans mit 21,6 Prozent, den Aufstieg Geert Wilders zu stoppen. Dessen PVV erreichte »lediglich« 17 Prozent.
In Finnland ist es der konservativen KOK mit 24,8 Prozent und mit dem unglaublichen Ergebnis der finnischen Linkspartei Vasemmistoliitto von 17,3 Prozent gelungen, die Wahren Finnen unter 15 Prozent an die dritte Stelle des Parteiensystems zu drücken. Ähnlich war es in Schweden. In Spanien blieb die Vox, wie auch in Portugal die Chega, unter 10 Prozentpunkten.
Bei den Sozialdemokraten/Sozialisten können die Verluste unter anderem der deutschen Sozialdemokraten durch die starken Ergebnisse der Sozialdemokraten wie in den Niederlanden, Spanien oder Schweden kompensiert werden bzw. durch das Wiedererstarken der Sozialisten in Frankreich und der Pasok in Griechenland.
In Spanien blieb die PSOE jedoch mit 30,19 Prozent hinter den Konservativen mit 34,2. In Dänemark fielen die Sozialdemokraten mit 15,6 Prozent hinter die Dänische sozialistische Volkspartei (SF) mit 17,4 Prozent zurück.
Linksfraktion praktisch unverändert
Die Fraktion der Linken scheint kaum verändert. Mit 5 Prozent und 36 Sitzen erreicht sie nahezu die Ergebnisse der letzten Wahlen. Dahinter stehen jedoch völlig unterschiedliche Entwicklungen.
Neben den Erfolgen der finnischen Linksallianz steht die zyprische Akel – in Irland wird noch ausgezählt – mit über 20 Prozent auf der Erfolgsspur. In Griechenland wurde Syriza mit 14,9 Prozent hinter den Konservativen zweitstärkste Kraft. Mera und Nea Aristera scheiterten mit 2,54 bzw. 2,45 Prozent an der Drei-Prozent-Hürde. Die schwedische Linke kam auf 10 Prozent, die dänische Linkspartei auf 7. Die PTB und PdVA in Belgien erhielten 5,9 bzw. 4,9 Prozent.
Die spanische Sumar kam auf 4,65 Prozent und Podemos auf 3,27 Prozent – weit weg von Erfolgen der letzten Jahre. In Portugal kam der Bloco auf 4,24 und die grün-kommunistische CDU auf 4,1 Prozent.
Die ialienische Sinista Alleanza Verdi e Sinistra kam auf 6,6 Prozent und die Friedensliste Pace Terra Dignità auf 2 Prozentpunkte. Die kroatische Mozemo erhielt 5,9 Prozent, die slowenische Levica blieb mit 4,75 Prozent unter ihren Erwartungen. Die niederländischen Sozialisten (SP) kamen auf 2,2 Prozent, die tschechische KSCM wird nicht mehr gelistet. Allerdings zieht von der KSCM Kateřina Konečná als Teil einer links-patriotischen Allianz ins Europaparlament ein.
Alles in allem: Die wenigen Erfolge können die anhaltende Defensive der Linksparteien und die Existenzkrise einzelner Parteien nicht überdecken.
Wechselnde Mehrheiten
Es gibt bisher nur eine klare Mehrheit bestehend aus Konservativen, Sozialdemokraten und geschwächten Liberalen mit über 55 Prozent der EU-Abgeordneten. Allerdings muss man berücksichtigen, dass formale Mehrheiten im Sinne eines mehrheitsfähigen »Blocks« nicht die gleiche Verbindlichkeit haben wie bei den Abstimmungen in den nationalen Parlamenten.
Jenseits der Parteienfamilie können sehr unterschiedliche Mehrheiten zusammenkommen. Das können – nunmehr gestärkt – Mitte-rechts-Mehrheiten sein, wenn es um den weiteren Ausbau des europäischen Grenzregimes geht oder um die Begrenzung oder das Auslaufen von Klimaschutzprogrammen.
Mehrheiten zur verstärkten Militarisierung der EU sind möglich unter Federführung von Konservativen, Liberalen, Sozialdemokraten und Teilen der Grünen. Die Frage der EU-Erweiterung wird zu einem Kampffeld in der EU, die von rechts blockiert werden kann. In welchem Maße die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit Eckpfeiler der Demokratie bleiben und sanktioniert werden können, wird man sehen.
Cornelia Hildebrandt ist Ko-Präsidentin der linken europäischen »Denkfabrik« Transform! Europe.
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