Digitalisierung und Eigenverantwortung

Das Gesundheitswesen in Finnland setzt auf die Grundversorgung in regionalen Zentren

Deutschland hat zwar das teuerste Gesundheitssystem in der Europäischen Union, aber in seiner jetzigen Form scheint es an Grenzen zu kommen. Auch die Siemens-Betriebskrankenkasse hebt den Blick über den Tellerrand und fragt Experten, was europäische Nachbarn anders machen. In einer Online-Veranstaltung ging es zuletzt um Finnland.

Schon im Vergleich der Bevölkerungsdichte könnten die Verhältnisse nicht unterschiedlicher sein: In Deutschland leben etwa 240 Einwohner je km2, in Finnland sind es 18. Bevölkerung und Wirtschaft konzentrieren sich im Süden, in den Ballungsräumen von Helsinki, Tampere, Turku und Oulu. In Lappland hingegen leben pro Quadratkilometer sogar nur zwei Einwohner.

Entsprechend dieser Unterschiede sind auch die Ressourcen zu verteilen. Insgesamt fünf finnische Regierungen arbeiteten sich seit 2005 nacheinander an einer großen Gesundheitsreform ab, wie Sven Preusker berichtet. Der freie Autor lebt seit einigen Jahren in Finnland und ist unter anderem Chefredakteur des Infodienstes »Klinik Markt Inside«. Mit der Reform, die schließlich 2023 in Kraft trat, wurde die Versorgung auf größere regionale Einheiten umgestellt.

Zugleich sollten die finanzielle Basis und der gleichberechtigte Zugang gestärkt werden. Aktuell gibt es demnach 21 Gesundheitsregionen sowie Helsinki und die autonome Region der Åland-Inseln als Extra-Einheiten. Neben der Gesundheitsversorgung sind die Regionen auch für Sozialwesen und Rettungsdienst verantwortlich. Die jeweiligen Regionalräte agieren autonom und werden 2025 erneut gewählt.

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Hauptanbieter für die Primärversorgung sind die Gesundheitszentren. Hier werden Patienten mit akuten und chronischen Krankheiten betreut, es gibt Gesundheits- sowie Mutter-Kind-Beratung, Impfungen, Vorsorgeuntersuchungen, Zahnärzte und einfache Diagnoseverfahren. »Teilweise haben die Zentren auch stationäre Abteilungen, etwa zur Beobachtung akuter Erkrankungen oder zur Nachsorge nach Operationen«, berichtet Preusker. So ähnlich scheint die Idee in der aktuellen Krankenhausreform hierzulande für die Level-1i-Häuser zu sein, in denen möglicherweise ambulante und stationäre Versorgung unter einem Dach stattfinden wird.

Besonders interessant ist jedoch bei der finnischen Variante, wie der Zugang zur Versorgung geregelt ist. Am meisten genutzt wird nämlich der telefonische Erstkontakt, wobei ein Rückrufservice besteht. Auf diesem Wege vergeben die Zentren Termine für den gleichen oder den Folgetag. Bei Bedarf kann sich schon in das erste Gespräch ein Arzt zuschalten, ansonsten kommen hier speziell qualifizierte Pflegekräfte zum Einsatz.

Dieser Beruf spielt im Gesamtsystem eine große Rolle. Schon die Ausbildung ist in Finnland akademisiert: 3,5 Jahre dauert sie an den Hochschulen. Ein weiteres Semester qualifiziert eben für die Vermittlungsfunktion in den Gesundheitszentren und andere Aufgaben. Mit zusätzlichen Weiterbildungen können diese Beschäftigten auch Medikamente verschreiben, sie übernehmen Verantwortung im Fallmanagement und bei der Bewertung von Notfällen.

Bei nicht akuten Beschwerden füllen Patienten Online-Fragebögen aus und bekommen auf diesem Weg ebenfalls einen Termin vermittelt. »Natürlich können die Menschen auch direkt in die Gesundheitszentren gehen«, erklärt Preusker. Dort geben sie zuerst ihre persönliche ID ein und erhalten dann eine Wartenummer. Die ID ist ein allgemeiner Schlüssel zum öffentlichen Leben: Sie wird auch allgemein bei Behörden benötigt oder bei der Eröffnung eines Bankkontos. Die Art der Identifizierung über mehrere gesellschaftliche Bereiche hinweg zeigt unter anderem, dass die Digitalisierung im finnischen Alltag schon deutlich weiter fortgeschritten ist als in Deutschland.

Dies zeigt auch die elektronische Patientenakte, die 2007 eingeführt wurde und seit 2010 landesweit verbreitet ist. Die Patienten selbst haben jederzeit Zugriff auf ihre Daten, sie sehen auch, wer sich diese sonst angeschaut hat. Bestimmte Bereiche, wie die zu psychischen Erkrankungen, können besonders geschützt werden. Schon seit 2008 wird in Finnland das elektronische Rezept genutzt. Peukert sieht in Bezug auf diese digitale Praxis bei den Finnen ein »Grundvertrauen in die Institutionen«.

Ein anderes wichtiges Merkmal des finnischen Gesundheitssystems ist, dass es über Steuergelder finanziert wird. Die Gesundheitsregionen erhalten ihre Mittel nach Bevölkerungszahl und jeweiliger Krankheitslast. Probleme gibt es aber auch, unter anderem lange Wartezeiten bei planbaren Eingriffen und fehlende Therapiemöglichkeiten bei seelischen Erkrankungen.

Unter den Zukunftsvisionen für das finnische Gesundheitswesen hebt Peukert die Stärkung der Prävention hervor: 30 Prozent der Gesundheitsausgaben sollen einmal in diesen Bereich fließen. In Deutschland ist es aktuell ein Prozent der Ausgaben der gesetzlichen Kassen.

Franziska Beckebans von der Siemens-Betriebskrankenkasse sieht in dem finnischen Modell einiges Nachahmenswertes. Bei einem Leuchtturmprojekt ihrer Krankenkasse in Bayern wurden speziellen Assistentinnen Aufgaben übertragen, die Hausärzte entlasten, darunter Wundversorgung, Verbandswechsel, Erfassung der Krankengeschichte oder Messung des Blutzuckers. Die Assistentinnen können etwa bei Hausbesuchen jederzeit einen Arzt aus dem Umkreis kontaktieren. Das ist jedoch »nur« ein Modellprojekt von regionaler Bedeutung. »Noch herrscht in Deutschland eine Arztzentrierung«, sagt Beckebans. Man müsse das anders denken und der Bevölkerung mehr zutrauen.

Auf die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung setzt Finnland schon länger. Seit einigen Jahren gibt es ab dem achten Schuljahr zwei Jahre lang ein entsprechendes Fach, jeweils ein bis zwei Stunden pro Woche. Die Grundlagen für die Selbstfürsorge sind entsprechend besser. Daher wird von den Gesundheitszentren schon mal empfohlen, sich erst einen Tag Ruhe zu gönnen. Nur wenn die Symptome dann nicht besser sind, sollten sich die Patienten erneut melden und einen Termin geben lassen. In Deutschland lautet die häufigste Empfehlung hingegen weiterhin: »Unbedingt von einem Arzt abklären lassen.«

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