Tempelstunde

Die Performerin und Regisseurin Karoline Stegemann macht Schwangerschaftsabbrüche in der toten Mitte Berlins zum Thema

Performance – Tempelstunde

Wir sitzen in der zunächst leer gefegten, dann mit lebloser Architektur neu bestückten Mitte Berlins. Als Tempel der stillschweigenden Kontemplation wird dieses Areal im Spreebogenpark bezeichnet. Das klingt ein bisschen nach fernöstlicher Weisheit, aber das Panorama zeigt die Stadt an dieser Stelle so, wie sie garantiert nicht ist. Das Auge des Berliners ohne Landsitz ist den Blick in die Ferne ohnehin nicht gewöhnt. Hier aber überschaut man ein weites Stück Grün, um dahinter in die Höhe ragend Glas, Stahl, Beton zu sehen: Konzernzentralen und die Charité, die auf ihrer Webseite damit wirbt, dass man beim Gebären auf den Reichstag sehen kann. Man wundert sich.

Hierher hat Karoline Stegemann eingeladen. »I am (no) mother« heißt ihre Arbeit, die gleich zu hören und zu sehen sein wird. An das Publikum werden Kopfhörer verteilt. Was für die nächste Dreiviertelstunde folgt, ist eine Auseinandersetzung auf verschiedenen Ebenen mit dem unsäglichen Paragrafen 218, der den juristischen Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen regelt und für Abtreibungen unter bestimmten Voraussetzungen derzeit zwar Straffreiheit gewährt, sie aber dennoch als Straftatbestand definiert.

Es ist der innere Monolog einer Frau, der uns zu Gehör kommt. Wir wissen nichts über sie, außer das eine: dass sie schwanger ist, ohne es zu wollen. Die Unsicherheit, der erste und der zweite Test, der Weg zum Arzt, das Zweifeln – wir hören es mit an. Montiert werden diese Passagen mit den gesellschaftlichen Hintergründen für diese Lage vieler Frauen: Rechtsgeschichtliches und Soziologisches, Gedanken von Marx und der Feministin Silvia Federici, Lieder aus dem Volksmund und technokratischer Politikersprech.

Aber diese Audio-Performance bleibt nicht beim Akustischen stehen, sondern versucht dem Gehörten Bilder gegenüberzustellen. Durch kleine choreografische Interventionen, die dem biederen Paragrafendeutsch die körperliche Erfahrung als andere Realität entgegensetzen und die keineswegs illustrativ geraten, öffnet Stegemann den Blick für den Raum.

Und gerade darin besteht wohl ein besonderer Reiz der Performance. Form und Ort fügen sich auf sinnstiftende Weise zueinander, ohne dass man beim Offensichtlichen stehen bliebe. Die Verhandlung einer überaus intimen Lebenssituation wie der Schwangerschaft und das vermeintliche öffentliche Interesse am »Schutz des ungeborenen Lebens« finden ihre Entsprechung im isolierten Hören eines jeden Einzelnen im Publikum und in der Darstellung im öffentlichen Raum.

In der Performance wird der Frauenkörper als Politikum offenbar. Anders als das Publikum hört der Passant nichts von der inneren Zerrissenheit der Frau; seinem Blick ist sie dennoch ausgesetzt. Es ist ein altes Dilemma – das Private, das politisch bleibt, und das Politische, das weit ins Private drängt.

Nein, eine kontemplative Arbeit ist »I am (no) mother« sicher nicht, aber sie ist vielleicht auf sanft-kluge Art weise.

www.karoline-stegemann.de

Diese Audio-Performance bleibt nicht beim Akustischen stehen, sondern versucht dem Gehörten Bilder gegenüberzustellen.

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