EU-Gericht verhandelt »Überkriminalisierung« von Fluchthilfe

Die Anti-Schleuser-Gesetzgebung der EU gefährdet Grundrechte, erklärt die Iuventa-Rechtsanwältin Francesca Cancellaro

Sie greifen das italienische »Gesetz zur Beihilfe der illegalen Einwanderung« sowie die dazugehörige EU-Richtlinie vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) an. Am Dienstag war dazu die Anhörung. Worum geht es dabei?

Der Gerichtshof soll urteilen, ob eine 22 Jahre alte EU-Richtlinie zur Beihilfe zur unerlaubten Einreise und ein dazugehöriger Rahmenbeschluss (das sogenannte »Beihilfepaket«) sowie dessen Umsetzung im italienischen Einwanderungsgesetz mit Artikel 52 der EU-Grundrechtecharta vereinbar, also verhältnismäßig sind. Denn die Kriminalisierung der Beihilfe zur irregulären Migration beeinträchtigt die Grundrechte auf persönliche Freiheit, Ansehen und Eigentum der Beschuldigten. Sie beeinträchtigt auch das Leben und körperliche Unversehrtheit von Migranten, außerdem ihre Rechte auf Asyl und Familienzusammenführung. Und sie führt zu einem Abschreckungseffekt für Hilfs- und Rettungsaktivitäten. Somit beeinträchtigen die Maßnahmen auch die Rechte von Migranten auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf Asyl, Familienzusammenführung und Kinderschutz.

Sie vertreten dazu eine Frau kongolesischer Herkunft, deshalb hieß das Verfahren anfangs »Kinshasa-Fall«. Wessen wird Ihre Mandantin beschuldigt?

Meine Mandantin O. B. wurde am Flughafen Bologna verhaftet, als sie bei der Grenzkontrolle falsche Dokumente für sich und ihre mitreisende Tochter und Nichte vorlegte – beide waren minderjährig. Ihr wird ein Verbrechen der Beihilfe zur irregulären Einreise vorgeworfen. Nach italienischem Recht wird jede Handlung verfolgt, die darauf abzielt, die Einreise eines undokumentierten Ausländers zu erleichtern, selbst wenn diese nicht tatsächlich erfolgt.

Italien verfolgt also auch Fluchthelfer, die nicht auf finanziellen Gewinn ausgerichtet sind?

Interview

Francesca Cancellaro hat ihr Jurastudium 2009 an der Universität Bologna mit Auszeichnung abgeschlossen, 2015 wurde sie dort Doktorin der Rechtswissenschaften im Strafrecht. Als zugelassene Anwältin sammelte sie umfangreiche Erfahrung im Bereich des Schutzes der Grundrechte, darunter als Rechtsberaterin vor der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Cancellaro ist auch Partneranwältin des Europäischen Zentrums für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) in Berlin. Unter anderem verteidigte sie die Crew des deutschen Rettungsschiffes »Iuventa« vor Gericht in Sizilien.

In Italien können sich diejenigen, die aus humanitären Gründen handeln, nur auf eine Rechtfertigung berufen, wenn der irregulär eingereiste Mensch, dem geholfen wird, sich bereits auf italienischem Territorium befindet. Diese Bestimmung steht im Einklang mit dem »Beihilfepaket« von 2002, die den Mitgliedstaaten freistellt, ob sie humanitäre Rechtfertigungen einführen und wie sie diese formulieren. Daher verhinderte selbst der Asylstatus meiner Mandantin die Einleitung eines Strafverfahrens nicht. Dieselbe Kriminalisierung trifft auch humanitäre Helfer und solidarische Netzwerke.

Wie könnte der EuGH demnach entscheiden?

Der Gerichtshof könnte die EU-Gesetze wegen Unvereinbarkeit mit der Grundrechtecharta für ungültig erklären. Er könnte aber auch entscheiden, dass humanitäre Maßnahmen wie etwa die Suche und Rettung auf See nicht von der Kriminalisierung umfasst sind. Oder noch umfassender: jedes Verhalten, das dem Schutz der Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Asyl und Familienzusammenführung dient.

Ihre Klage von 2023 ist eigentlich ein Vorabentscheidungsersuchen und erfolgte im »Iuventa«-Verfahren, bei dem Seenotretter in Sizilien vor Gericht standen. Warum wurde dieser Antrag zunächst abgelehnt?

Der Richter in Trapani meinte, dass eine Kriminalisierung der Fluchthelfer »absolut notwendig« sei, um öffentliche Interessen zu schützen. Keine weniger belastenden Maßnahmen könnten »wirksam den Schutz der fraglichen Interessen gewährleisten«. Nach ein paar Wochen habe ich meine Argumente bei einer anderen Richterin eingereicht. Diese hat sie dann akzeptiert.

Die EU-Mitgliedstaaten diskutieren derzeit den Kommissionsentwurf für ein neues »Schleuserpaket«. Was steht darin?

Die Mitgliedstaaten sollen verpflichtet werden, die vorsätzliche Unterstützung der Einreise, des Transits oder des Aufenthalts von undokumentierten Migranten strafrechtlich zu verfolgen, wenn diese aus finanziellen oder sonstigen materiellen Gewinnabsichten geleistet wird – selbst wenn die Unterstützung dann gar nicht umgesetzt wird. Strafbar wäre auch, wenn ein ernsthaftes Risiko besteht, eine an der Maßnahme beteiligte Person zu gefährden.

Wäre das »Schleuserpaket« also ein Fortschritt?

Der Anwendungsbereich der Strafvorschriften wäre enger als unter den derzeitigen Regelungen. Es gibt in dem Entwurf jedoch nichts, was die Mitgliedstaaten daran hindert, eigene, weitergehende Vorschriften vorzusehen. Sie könnten auch ihre strafrechtlichen Regelungen aus dem »Beihilfepaket« von 2002 beibehalten. Die aktuelle Überkriminalisierung würde fortgesetzt. Der problematischste Aspekt des Kommissionsvorschlags ist jedoch, dass er weiterhin keine Ausschlussklausel für diejenigen enthält, die die Einreise, den Transit oder den Aufenthalt aus Hilfs- oder humanitären Gründen oder zur Unterstützung von Familienmitgliedern erleichtern.

Italienische Organisationen nennen Ihre Klage einen »historischen Moment«. Wenn sie erfolgreich ausgeht, welche Auswirkungen hätte das?

Ich hoffe auf eine Entscheidung im September 2024. Je nach Inhalt könnte sie beispielsweise zu einer Neubewertung und Überprüfung der Urteile für Personen führen, die nach den angefochtenen Gesetzen verurteilt wurden. Sie könnte auch Auswirkungen auf laufende und natürlich zukünftige Fälle haben. Angesichts der laufenden Reform des »Schleuserpakets« könnte ein solches Urteil die Diskussionen erheblich beeinflussen.

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