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  • Multikulturalismus im Fußball

Vom Helden zum »Ausländer«

Fußball ist das beste Beispiel: Multikulturalismus scheint nur dann eine Berechtigung zu haben, wenn er Tore schießt

  • Frédéric Valin
  • Lesedauer: 5 Min.
Küssen der Hände ist aber schon noch erlaubt, oder?!
Küssen der Hände ist aber schon noch erlaubt, oder?!

Sportliche Großereignisse sind auch immer Bühnen der Identitäten. Das gilt besonders für den Fußball, dem seit jeher eine integrierende Funktion zugeschrieben wird. Fußball wird nicht nur gespielt, ein Turnier wird nicht nur gewonnen oder verloren, es bedeutet auch immer etwas: Das Wunder von Bern 1954 bedeutete die Rückkehr Deutschlands auf die Weltbühne, und Frankreichs Triumph 1998 war auch ein Triumph des Multikulturalismus über allzu starre konservative Vorstellungen nationaler Identitäten, war ein Triumph der Moderne über das alte Europa. Es ist nie nur Fußball.

Heutzutage weniger denn je, jede kleine Geste wird ausgedeutet und verhandelt. Im aktuellen Fall stammt die kleine Geste von Antonio Rüdiger, der auf einem offiziellen Porträtfoto der Uefa zum Himmel zeigt, wo offenbar der Gott wohnt, an den er glaubt. Der Tauhīd-Finger ist ein Glaubensbekenntnis. Diese Geste ist dann von den Rechten schnell als Terror-Gruß gebrandmarkt worden, gerade von Leuten wie dem Freidreher Julian Reichelt, die sich der Erkenntnis, dass der Islam inzwischen zu Deutschland gehört, verschlossen haben. (Von solchen Leuten hört man auch oft, man dürfe den Nationalstolz nicht den Nazis überlassen.)

Das Othering, also die Markierung eines Spielers oder einer Gruppe von Spielern als »anders« und »fremdartig«, findet sich in fast jeder Fußballgeschichte westlicher Länder.

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Es schloss sich die Frage an, ob die Fußballnationalmannschaft diese Gesellschaft überhaupt repräsentiert: In einer vom WDR ausgestrahlten Dokumentation wurden die Ergebnisse einer Umfrage vorgestellt, nach der 20 Prozent der Befragten es besser fänden, es stünden mehr weiße Spieler auf dem Platz. Diese Sorte Umfragen begleiten den Sport, seit er sich als Aufstiegschance für marginalisierte Gruppen etabliert hat; nachdem Frankreich 1998 mit seiner »black blanc beur«-Mannschaft zum ersten Mal in seiner Geschichte die WM gewonnen hatte, gab es eine ähnliche Umfrage. Damals antworteten 32 Prozent der Französ*innen, das Team sei nicht weiß genug.

Das Othering, also die Markierung eines Spielers oder einer Gruppe von Spielern als »anders« und »fremdartig«, findet sich in fast jeder Fußballgeschichte westlicher Länder. Der italienische Nationalspieler Mario Balotelli hatte sich oft mit der Behauptung auseinanzusetzen, dass es schwarze Italiener nicht gebe; der Brite Marcus Rashford war Zielscheibe vieler rassistischer Beschimpfungen, vor allem, nachdem er im EM-Finale 2020 den entscheidenden Elfmeter vergeben hatte.

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In Deutschland ist der Umgang mit Mesut Özil nie frei gewesen von antimuslimischen Ressentiments. Als Frankreich 2010 in Südafrika in der Vorrunde ausschied, wurden die Spieler zum Sinnbild der Jugendbanden in den Banlieues gemacht, die das Land in den Untergang reißen würden. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Diesen rassistischen und chauvinistischen Tendenzen setzt sich im Fußball eine multikulturelle Erzählung entgegen, die die Gewinne durch Vielfalt betont. Katrin Göring-Eckardt hat nach dem Sieg gegen Ungarn auf besonders ungeschickte Weise auf diese Metaerzählung aufgesattelt, als sie tweetete: »Stellt euch vor, da wären nur weiße deutsche Spieler.« Später entschuldigte sie sich, sie habe schlecht formuliert, aber im Grunde hat sie damit das Grundproblem gefasst: Der Multikulturalismus hat nur dann eine Berechtigung, wenn er erfolgreich ist.

Der Multikulturalismus ist ein Derivat des Liberalismus. John Rawls hatte 1971 das Gebot der strikten staatlichen Neutralität gegen partikuläre Identitäten und Wertvorstellungen aufgestellt. Bloß der Schutz der universellen Bedürfnisse sei Sache des Staates, der Rest gehe ihn nichts an. Dagegen behauptet der Multikulturalismus – hier konkret Taylor und Gutman – die Anerkennung des Individuums als Primärgut. Es gibt also ein Recht auf Differenz.

Wie dieses Recht konkret festgeschrieben werden soll, ist ohne weiteres nicht festzustellen. Eine echte Theorie gibt es nicht. Im Konzept des Multikulturalismus vermischen sich diverse Herangehensweisen; er ist eine Praxis, die es ermöglicht, mit den verschiedenen fragmentarischen Gruppen in einer Gesellschaft zu interagieren. Die Idee ist, die kulturelle Vielfalt zu erhalten, indem man den verschiedenen Gruppen erlaubt, ihre Eigenheiten und Ausprägungen zu bewahren. Dazu schafft man Räume und Situationen, in denen Minderheiten sich ausdrücken und ihre Identität performen; aus diesen Zonen interagieren sie mit anderen Gruppen und befruchten in einem interkulturellen Austausch insgesamt die sie umgebende Gesellschaft.

Das Problem im Fußball und in anderen Sportarten ist: Man verliert häufiger, als dass man gewinnt. Die Ansprüche und Erwartungen sind immer höher als das tatsächliche Ergebnis, und das gilt auch, wenn die Mannschaft am Ende siegt; denn das nächste Turnier und damit die nächste Niederlage warten schon. Im Fußball ist jeder Sieg die Verzögerung der notwendig irgendeinmal folgenden Blamage. Deswegen muss der Multikulturalismus an seinen eigenen Ansprüchen scheitern.

Es gibt freilich Alternativen: Eine der schönsten Geschichten der WM 2018 schrieb Schweden, das mit einer arg limitierten Gruppe angereist war und in einem dramatischen Spiel in der Vorrunde Deutschland in letzter Sekunde mit 2:1 unterlag. Den entscheidenden Freistoß hatte Jimmy Durmaz verursacht, der sich danach hunderttausenden rassistischen Beschimpfungen ausgesetzt sah. Die Mannschaft aber verstand sich als solche und stellte sich geschlossen hinter ihn. Und das wortwörtlich. Es wurde ein Video produziert, in dem Durmaz ein Statement vortrug, hinter ihm seine Kameraden, und als sie zum Ende hin geschlossen »Fuck racism!« riefen, begann Durmaz zu weinen. Es war ein rührender, menschlicher Moment, die schönste Szene der ganzen WM.

Einer der größten Spieler aller Zeiten war der Brasilianer Socrates, der in Zeiten der Militärjunta bei Corinthians São Paulo spielte. In seiner Zeit dort wurde innerhalb des Teams eine Art Demokratie entworfen, die Trikotwerbung auf der Brust wurde abgeschafft und stattdessen wurden prodemokratische Slogans geflockt. Auf einem der Trikots der Corinthians stand: »Siegen oder verlieren, aber stets mit Demokratie.« Das ist die Botschaft, die diese Mannschaft sendet: für ein solidarisches Zusammensein muss man sich entscheiden. Das ist Arbeit. Das kann einem nicht zugeschrieben werden, das muss man selbst tun.

Socrates wechselte später zu Florenz, nach Italien, und seine Begründung war, er wolle Gramsci im Original lesen können und die Geschichte der italienischen Arbeiterklasse studieren. Es ist, wie Kylian Mbappé kürzlich angesichts eines möglichen Wahlsiegs der Rechtsextremen in Frankreich sagte: Es gibt Dinge, die sind größer als der Fußball. Gramsci lesen zum Beispiel.

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