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Allianz alarmiert: Zahl antimuslimischer Angriffe 2023 verdoppelt
Fünf muslimfeindliche Vorfälle pro Tag sind im diesjährigen Lagebericht erfasst. Politik vernachlässige die Bedrohungslage
Die Zahl antimuslimischer Angriffe, Bedrohungen und Diskriminierungen hat sich 2023 im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Dies geht aus dem zweiten Lagebericht der Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit (Claim) hervor, der am Montag in Berlin vorgestellt wurde. Demnach wurden 2023 bundesweit 1926 Übergriffe registriert – im Durchschnitt also mehr als fünf pro Tag. Claim-Leiterin Rima Hanano sieht den Rechtsruck der demokratischen Parteien als mitverantwortlich.
»Die Lage hat sich deutlich verschlechtert«, sagte Hanano bei der Vorstellung des Jahresberichts in den Räumlichkeiten der Bundespressekonferenz. Die massive Zunahme antimuslimischer Übergriffe sei »mehr als besorgniserregend«, die Bedrohungslage werde gleichzeitig aber kaum wahrgenommen. Für das Lagebild wurden den Angaben zufolge unter anderem Fallzahlen von regionalen Melde- und Beratungsstellen sowie aus der Statistik der politisch motivierten Kriminalität 2023 berücksichtigt. Die Dunkelziffer sei hoch.
Mit 1277 machten verbale Angriffe zwei Drittel der 2023 registrierten Übergriffe aus. Darunter waren Volksverhetzungen, Beleidigungen und Bedrohungen. Es folgten Diskriminierungen – 363 oder 19 Prozent der Fälle. Registriert wurden zudem 178 Körperverletzungen, vier versuchte Tötungen und fünf Brandstiftungen. Einen deutlichen Anstieg der antimuslimischen Übergriffe registrierte Claim nach dem Überfall der radikalislamischen Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023.
Claim vernetzt nach eigenen Angaben 51 zivilgesellschaftliche muslimische und nichtmuslimische Organisationen.
Neben mehr als 90 Angriffen auf Glaubenseinrichtungen wie Moscheen oder Friedhöfe, kam es auch vermehrt zu Bedrohungen im Gastronomiebereich. Beispielsweise würden immer wieder anonym rassistische Nachrichten auf Liferando-Lieferscheine geschrieben. »Die [erfassten] Kommentare enthielten explizite Gewaltandrohungen bis hin zu Vernichtungsfantasien gegen Palästinenser und Muslime«, heißt es im Claim-Bericht.
»Die Kommentare enthielten Gewaltandrohungen und Vernichtungsfantasien gegen Palästinenser und Muslime.«
Aus dem Claim-Bericht
Der überwiegende Teil der Vorfälle ereignet sich laut Lagebericht im Bildungsbereich und in der Öffentlichkeit. Für Musliminnen und Muslime »oder Menschen, die als solche gelesen werden, sind die Straße, der Bus oder die Moschee längst keine sicheren Orte mehr«, erklärte dazu Hanano. »Antimuslimischer Rassismus war noch nie so salonfähig wie heute.«
Hanano sieht alle demokratischen Parteien mitverantwortlich für die muslimfeindliche Stimmung im Land. »Antimuslimischer Rassismus ist nicht nur Programmatik der AfD. Viele antimuslimische Erzählungen werden auch von den demokratischen Parteien übernommen«, sagt Hanano gegenüber »nd«. Sie wünsche sich mehr Selbstreflexion in den Parteien darüber, welche Gefahr von einer solchen Normalisierung ausgehe. »Antimuslimische Ressentiments dürfen nicht benutzt werden, um die eigene Politik zu legitimieren. Die Leute werden immer das Original, die AfD, wählen.«
Kritik übt Hanano auch am jüngst vorgestellten Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2023. Eine nach dem 7. Oktober 2023 gestiegene Bedrohungslage für Muslime gebe es demnach nicht. Verglichen mit der Situation für Juden sei diese »zu vernachlässigen«, so der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Thomas Haldenwang bei der Präsentation des Papiers Mitte Juni. »Diese Einschätzung teilen wir nicht, gerade deshalb, weil wir gerade eine große Zunahme antimuslimischer Straftaten erfassen,« so Hanano.
Betroffene nicht ernst zu nehmen und nicht ausreichend zu schützen, berge eine große Gefahr für die Gesellschaft, erklärt Hanano gegenüber »nd« – das Vertrauen von muslimischen Menschen in Institutionen und Politik sinke. »Wenn ich keine Solidarität erfahre, wenn mir meine Erfahrungen aberkannt werden, wenn Menschen unter Generalverdacht gestellt werden, etwa für Terroranschläge, hat das im schlimmsten Fall gesellschaftlichen Rückzug zur Folge.«
Das Bündnis fordert eine bessere Erfassung von antimuslimischem Rassismus sowie eine bessere Unterstützung Betroffener. Entsprechende Beratungsstrukturen müssten dauerhaft finanziert werden. Gefordert wird weiter eine »rassismuskritische Sensibilisierung« von Behörden und Verwaltung.
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