- Gesund leben
- Antidepressiva
Immer schön langsam
Eine Meta-Analyse fasst erstmals zusammen, wie häufig mit Symptomen beim Absetzen von Antidepressiva zu rechnen ist
Antidepressiva werden sowohl in Deutschland als auch in Europa häufig verordnet. In der Schweiz gehören diese Psychopharmaka zu den meistverschriebenen Medikamenten. Auch in Deutschland stieg die Zahl der verordneten Tagesdosen deutlich: Lag sie für alle gesetzlichen Krankenkassen 2012 noch bei rund 1,3 Millionen, waren es laut Wissenschaftlichem Institut der AOK zehn Jahre später rund 1,8 Millionen.
Einerseits begrüßen Fachleute das, weil so endlich mehr Patienten versorgt werden. Andererseits sind gerade diese Medikamente mit etlichen Problemen behaftet. Diese bestehen nicht nur in Befürchtungen von Patienten, dass sie davon abhängig werden könnten. Denn oft werden die Mittel nicht entsprechend medizinischer Leitlinien verordnet, sondern, unter anderem von Hausärzten, zum Beispiel schon bei Befindlichkeitsstörungen oder nur leichten Depressionen. Angesagt sind die Wirkstoffe aber nur bei einer mittelschweren bis schweren Depression von mindestens zwei Wochen Dauer. Es heißt, dass sie bei schwerer ausgeprägten Fällen besser wirken.
Ein weiteres Problem, das bei vielen anderen auf Dauer verordneten Medikamenten besteht, ist die Schwierigkeit, diese wieder abzusetzen. Grundsätzlich wird zu oft von Ärzten davon ausgegangen oder der Eindruck vermittelt, dass das keine gute Idee sei. Wenn Erkrankte wegen starker Nebenwirkungen ihre Mittel einfach absetzen, gibt es dafür selten Verständnis. Bei den Antidepressiva ist der Blick auf das Thema insgesamt schon differenzierter.
In einer neuen Meta-Analyse haben Forschende jetzt den Wissensstand zusammengetragen. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse im Fachjournal »The Lancet Psychiatry«. In die Untersuchung einbezogen wurden Studien mit Daten von mehr als 20 000 Patienten. Grob zusammengefasst, erleidet eine von sieben Personen beim Absetzen von Antidepressiva unangenehme Symptome wie Schwindel, Übelkeit oder Schlafstörungen. Genauer berichteten 31 Prozent der Betroffenen von Absetzsymptomen, bei 2,8 Prozent fielen diese schwer aus. Aber auch 17 Prozent der Menschen, die Placebo-Präparate erhalten hatten und glaubten, dass sie Wirkstoffe eingenommen hätten, gaben die Symptome an. Das scheint auf konkrete Erwartungen der Patienten hinzuweisen.
Wie wirken Antidepressiva im Gehirn? Sie verändern die Kommunikation zwischen Nervenzellen, wie Erich Seifritz von der Uniklinik Zürich gegenüber dem Science Media Center (SMC) erklärt, das Mediziner zu der Meta-Analyse befragte. Im Gehirn werden durch die Medikamente Neurotransmitter wie etwa Serotonin gehemmt oder gefördert. »Diese molekularen Effekte von Antidepressiva bewirken sehr komplexe und unvollständig verstandene neuronale Adaptionsprozesse. Das ist ein sehr langsamer Vorgang, der zum Teil dafür verantwortlich ist, dass Antidepressiva nicht sofort, sondern erst nach mehreren Tagen zu wirken beginnen«, sagt der Psychiater und Klinikdirektor.
Langsamkeit ist ein wichtiges Stichwort im Zusammenhang mit Antidepressiva, auch für deren Absetzen. Hier setzt eine grundsätzliche Kritik von Seifritz an den ausgewerteten Originalstudien an: »Die Medikamente wurden in einer Weise abgesetzt, wie das kein erfahrener Kliniker heute tun würde, nämlich von einem Tag auf den anderen.« Es gelte im Gegenteil, eine individualisierte Behandlung durchzuführen, was in Studien aus methodischen Gründen kaum möglich sei. Ebenso müssen Antidepressiva in der Regel langsam und entsprechend der Situation des Patienten ausgeschlichen werden. Das kann geschehen, »wenn das Medikament nicht mehr notwendig ist, nicht genügend gut wirkt, Nebenwirkungen erzeugt oder es aus anderen Gründen abgesetzt werden soll«.
Langsames Ausschleichen sei erst nach längerer Einnahme notwendig, fasst Michael Hengartner von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften die Meinung vieler Experten zusammen. Es sollte »möglichst langsam in kleinen Schritten erfolgen – über zwölf Wochen und mehr, falls nötig.« Auch laut Katharina Domschke von der Uniklinik Freiburg ist ein langsames Absetzen für die meisten Medikamente, auch nichtpsychiatrische, empfohlen.
Sie ergänzt: »Schwere Absetzphänomene führen aber nicht zu ernsten medizinischen Komplikationen«, zur Belastung könnten sie trotzdem werden. Eine erneute Depression würde eventuell begünstigt, und zugleich verhindert, dass die im Absetzen als schwierig erlebten Medikamente wieder zum Einsatz kommen. Psychiaterin Domschke empfiehlt, besser über das Absetzen zu informieren, Behandler wie Patienten. Insofern könne die Meta-Studie für die Auseinandersetzung mit diesem Teil der Pharmakotherapie gute Dienste leisten.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.