- Politik
- Krise des Kapitalismus
Mitten in der Endzeitstimmung
Wenn sich der Niedergang eines Imperiums mit der Überlebenskrise der Menschheit verknüpft
Nach allgemeiner Lesart repräsentieren die liberalen Gesellschaften im Westen die entwickeltste Form des Kapitalismus. Dieser Kapitalismus galt lange Zeit nicht nur in Bezug auf die industrielle und postindustrielle Ökonomie und den Entwicklungsstand von Wissenschaft und Technologie, sondern auch in Bezug auf das politische System, die Lebensformen und die Werte als das Nonplusultra des zivilisatorischen Fortschritts. Ohne Zweifel hat der Kapitalismus enorme Errungenschaften hervorgebracht. Er hat »massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte als alle vergangenen Generationen zusammen« erzeugt, heißt es im »Kommunistischen Manifest«. Zu diesen Errungenschaften gehören die Dampfmaschine, das Auto, der Computer, das Smartphone und gewiss auch die Ideen der Aufklärung.
Aber inzwischen stößt die kapitalistische Produktions- und Lebensweise mit ihrem »wahnwitzigem Ressourcenverbrauch« an ihre Grenzen und bedroht unsere Existenzgrundlagen. Viele fragen sich: Können wir uns diese destruktive »Fortschrittsdynamik« noch leisten? Es wächst nicht nur der Zorn auf den Klimakiller-Kapitalismus, sondern auch die Wut auf ein kapitalistisches System, in dem die Schere zwischen Reichtum und Armut immer größer wird und in dem die politischen Eliten ihre eigene Suppe kochen, die vielen Wählern nicht mehr schmeckt. Die allgemeine Unzufriedenheit hat selbst große Teile des Mittelstandes erfasst.
Kein Wunder, dass die Rufe nach einer neuen Wirtschaftsordnung lauter werden. Die Journalistin Ulrike Herrmann plädiert in ihrem Bestseller »Das Ende des Kapitalismus« für eine »Überlebenswirtschaft«, in der die Betriebe privat bleiben, »aber der Staat festlegt, was noch hergestellt wird« und wie die Güter verteilt werden. Herrmann zufolge kann die Menschheit nur überleben, wenn sie keine Treibhausgase mehr emittiert und das Wachstum kontrolliert wird. Letzteres widerspreche jedoch dem Wesen des Kapitalismus, der nur so lange stabil ist, »solange er wächst«. Weil der Kapitalismus (in der bisherigen Form) permanent expandieren müsse und einem »Wachstumszwang« unterliege, richte er immer neue Umweltschäden an und kollidiere systemisch mit den Überlebensinteressen der Menschheit.
Dr. Horst Poldrack, Jahrgang 1950, ist Philosoph und arbeitete an diversen wissenschaftlichen Einrichtungen. Von 2006 bis 2016 coachte er Führungskräfte in China. 2022 erschien sein Buch »Neoliberale Gehirnwäsche«.
Meint Ulrike Herrmann und sie hat vermutlich recht. Auch das sogenannte grüne Wachstum, die Ideologie der Grünen, hält sie für eine Öko-Illusion. Denn technische Innovationen können das gegenwärtige Lebensmodell im Westen nicht retten und mit der Umwelterhaltung verträglich machen. Auch E-Autos seien zum Beispiel keine echte Alternative. Was wir brauchen, sind nicht mehr E-Autos, sondern weniger Autos und eine drastische Reduzierung der Automobilität.
Man mag Ulrike Herrmann in vielen Punkten zustimmen, aber der von ihr offerierte Ausweg aus dem Dilemma greift zu kurz. Es geht nicht nur darum, den Turbokapitalismus durch eine ökologisch verträgliche »Überlebenswirtschaft« zu ersetzen und alles wird gut. Überall dort, wo der Kapitalismus sich als faktische Gesellschaftsordnung formiert, bringt er nicht nur eine entsprechende profitgetriebene Ökonomie hervor, sondern kreiert auch politische Institutionen und sozio-kulturelle Denk- und Lebensformen auf seine spezielle Weise. Das Problem ist komplexer.
Es ist nicht nur die kapitalistische Ökonomie, die auf die Modi von Bereicherung, Ausbeutung und Zerstörung ausgerichtet ist, auch Politik und Kultur sind systemisch verformt. Die Aufgabe, vor der der moderne Mensch steht, ist viel gewaltiger. Was wir ändern müssen, um auf diesem Planeten überleben zu können, ist nicht weniger als das gesamte westliche Zivilisationsmodell. Wir können weder in der Wirtschaft noch in der Politik oder im Lifestyle einfach so weiter machen wie bisher. Es geht nicht nur darum, die kapitalistische Ökonomie zu verändern und auf ökologische Kreislaufwirtschaft umzumodeln, vielmehr muss die gesamte Gesellschaft für das nachhaltige Überleben fit gemacht werden. Es ist nicht nur der von Gier und Profitstreben angetriebene Turbokapitalismus, sondern auch der damit verbundene hemmungslose Individualismus und Lebensstil des unersättlichen materiellen Konsum, von dem wir uns befreien müssen.
Die Abkehr vom bisherigen (Irr-)Weg ist gewiss nicht einfach, denn Menschen streben natürlicherweise nach Wohlbefinden und dieses hängt für die Mehrheit mit Wohlstand zusammen. Der Modus der materiellen Wohlstandsmehrung hat sich tief in die soziale DNA des modernen Menschen eingebrannt. Wir müssen lernen, dass Wohlstand nicht gleich materieller Konsum ist, sondern auch in guten sozialen Beziehungen oder in sinnvollen kulturellen Aktivitäten zum Ausdruck kommen kann. Wie sollen das aber Menschen verstehen, geschweige denn akzeptieren, die unter extremer (materieller) Armut und Unterdrückung leben?
Wir im Westen leben in einem politischen System, das nach demokratischen Regeln organisiert ist. Der hohe Anspruch, eine Demokratie zu sein, gehört zum Selbstverständnis der modernen bürgerlichen Gesellschaften wie das Amen in der Kirche. Es ist wie ein in Stein gemeißelter Grundwert, der das Selbstbild dieser Gesellschaften ausmacht. Jenes der Machteliten, aber auch das der Bevölkerung. Nun kommt dieser Grundpfeiler ins Wanken. Die Demokratie funktioniert nicht (mehr) richtig.
Dieser Prozess ist nicht neu, sondern hat schon vor geraumer Zeit begonnen. Die Soziologen Erwin K. und Ute Scheuch haben bereits in den 90er Jahren anhand des Kölner Parteiklüngels analysiert, wie sich parteiübergreifend ein nepotistisches System von Beziehungsgeflechten zwischen Politik und Wirtschaft herausgebildet hat, das von der Gier nach Geld und dem Streben nach Macht getrieben wird. Beim sogenannten Kölner Filz handelt es sich nicht um Einzelfälle, wie Ute Scheuch im Vorwort zur Neuauflage des Buches feststellt, sondern um »Systemeigenschaften der real existierenden Demokratie« im Westen. Die etablierten politischen Parteien haben sich nicht nur von der »autonomen Willensbildung des Volkes abgekoppelt«, moniert Scheuch, sondern sind vor allem bei ihrer zentralen Funktion gescheitert, der Auswahl von Kandidaten für politische Führungspositionen.
Die Lage hat sich seitdem weiter zugespitzt. Immer mehr Menschen haben den Eindruck, dass die Demokratie im Westen aus dem Ruder läuft und das politische (Spitzen-)Personal versagt. Das Volk fühlt sich nicht mehr gut regiert und das Systemvertrauen schwindet. Der Kapitalismus ist nicht nur wegen seiner zerstörerischen Wachstumsdynamik untragbar geworden, auch das individualistische Mindset und das gestörte System der bürgerlichen Parteiendemokratie passen nicht mehr in die Zeit. Wir brauchen nicht nur den Rechtsstaat und die Demokratie auf dem Papier, wir brauchen eine funktionierende Demokratie im realen Leben.
Es reicht nicht aus, dass Wahlen nach formalen Kriterien frei und korrekt ablaufen und alle fünf Jahre Parteien bzw. gewählte Volksvertreter nach oben bringen, denen es oft an Integrität, Kompetenz und strategischer Ausdauer mangelt. Es kommt darauf an, dass wir unsere Ressourcen auf die Behandlung der zentralen Probleme konzentrieren, deren Lösung in der Regel den Zeithorizont von Wahlperioden überschreitet. Dafür ist das liberale System im Westen offenbar nicht geeignet. Wir müssen den vergänglichen Schöpfungen des westlichen Kapitalismus daher eine weitere Hydra hinzufügen: Die deformierte bürgerliche Demokratie.
Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Abschied von einem System, das in den letzten 200 Jahren nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die kulturellen Muster und politischen Institutionen der Welt beherrscht und geprägt hat. Wer es noch nicht bemerkt haben sollte: Wir leben in der Niedergangsphase eines Imperiums, vermutlich dem größten, das jemals existiert hat. Es herrscht Endzeitstimmung. Der Niedergang von Gesellschaftssystemen war stets mit Zerstörungen, Verlusten und kriegerischen Auseinandersetzungen verbunden.
Aber Imperien haben durch ihren Untergang in der Regel auch Neuem zum Durchbruch verholfen und Fortschritt ermöglicht. Hoffen wir, dass es auch dieses Mal so sein wird. Die Konstellation ist heute jedoch eine grundsätzlich andere, denn der Niedergang des westlichen Imperiums vollzieht sich in einer welthistorisch einmaligen Situation, in der die Existenz der Menschheit als Ganzes bedroht ist. Diese apokalyptische Bedrohung überlagert alle anderen Konflikte und Auseinandersetzungen. Das macht die Krise des liberalen Kapitalismus so dramatisch und universell. Denn bei all den Konflikten geht es am Ende um das Ganze und es besteht die Gefahr, dass sich der Homo sapiens in diesen Kämpfen selbst auslöscht.
Die große Frage unseres Jahrhunderts lautet: Kann der westliche Kapitalismus noch einen grundlegenden Kurswechsel vollziehen und sich als Gesellschaftsmodell von innen erneuern? Wie wird sich sein weiterer Niedergang gestalten? Wird er alles mit sich reißen und zerstören oder dürfen wir auf einen eher friedvollen Abgang hoffen, wie ihn der sowjetische Frühsozialismus vorgemacht hat?
Die derzeitige Lage ist beunruhigend und bedrohlich. Ein neuer kalter Krieg zwischen den großen Rivalen ist im Gange und es werden auch wieder reale Systemkriege geführt. Während die ökologischen Zerstörungen weitergehen und eine wertegeleitete Kriegspropaganda Hochkonjunktur hat, boomt in den westlichen Gesellschaften das emanzipatorische Ethos eines entfesselten Individualismus, der von den wirklich wichtigen Problemen ablenkt und es herrschenden Eliten erleichtert, unter dem Getöse von Menschenrechten und Freiheit Politik gegen die Interessen des Demos zu machen.
Bei vielen Bürgern ist der Eindruck entstanden, dass die regierende Politik nicht nur gegen ihre fundamentalen Interessen agiert, sondern dass sie vorhandene Probleme und Krisen sogar verschärft, anstatt sie zu lösen. Und der verstörte Bürger fragt sich: Was tun, wenn wir nicht mit der politischen Vernunft und Weisheit der Eliten rechnen können? Was tun, wenn wir nicht auf die Kraft und Schwarmintelligenz der Demokratie vertrauen können? Was tun, wenn demnächst wieder Wahlen sind?
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