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Sternchen sehen – auf der Art Basel
Ist Kunst schauen wie ein Schlag auf die Fresse?
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.
Wenn man zu lange in die Sonne schaut, kann man erblinden. Manchmal verliert man das Augenlicht aber nicht vollständig, sondern die Netzhaut ist stattdessen irreversibel perforiert. Man sieht dann buchstäblich löchrig – das heißt, auf dem Bild, das man für die Realität hält, sind schwarze Punkte in einigermaßen gleichmäßigen Abständen angeordnet.
Auch wenn man in Ohnmacht fällt, sieht man Punkte, »Sternchen«, wie man sagt. Was genau es mit diesen Sternchen auf sich hat, weiß ich nicht, aber sie sind mir vertraut – sie bewegen sich mit der Bewegung des eigenen Kopfes, hin und her, nach oben und nach unten. Manchmal verändern sie die Farbe. Es wird deutlich, dass sie eine Wahrnehmungsverschiebung sind, eine Art Illusion.
Wenn ich an den Begriff des »Sternchen-Sehens« denke, fallen mir Cartoons ein: Einzelne Cartoon-Charaktere sitzen auf dem Boden, nachdem sie einen Schlag auf die Fresse bekommen haben oder in einen Faustkampf geraten sind (dargestellt als gezeichnete Staubwolke). Über ihrem Kopf sind Sternchen skizziert, kreisrund angeordnet. Sie sollen ihre Verwirrung illustrieren.
Ich mache die Erfahrung: Ohnmacht ist fast immer eine Erlösung. Wenn man daraus erwacht, sind die Sternchen verschwunden.
Auf der Hinfahrt zur Art Basel schmuggele ich mehrere Kunstwerke von Berlin in die kleine Stadt, die während der Messe auf ihre mehrfache Größe anschwillt – das heißt, in Bezug auf die Menschenmenge. Klein bleibt die Stadt trotzdem, man begegnet sich überall, wie bei einem Festival. Auch der Rhein ist angeschwollen. Dieses Jahr kann man wegen des Hochwassers nicht darin schwimmen. Ich spiele panisch Tetris im ICE – die Taschen sehen so offensichtlich nach einem Kunsttransport aus, wie eine Schlange, die ein Schaf verschluckt hat.
Als ich nach dem ersten Tag auf der Art Basel zu Hause ankomme, sehe ich gepunktet. Einen Schlag auf die Fresse habe ich nicht bekommen, dennoch fühle ich mich ein bisschen so. Ich lerne den Begriff: Retinal Information. Die Retina des Auges kann nur eine bestimmte Anzahl visueller Informationen speichern – ein Tag auf der Messe beinhaltet eindeutig mehr Bilder, als von ihr verarbeitet werden kann. Man ist am Ende des Tages, ganz somatisch, einer Ohnmacht nahe.
Ich liege also auf dem Bett, vor meinen geschlossenen Augen fliegen farbige Sterne und Blitze hin und her. Ich lasse die Gedanken kreisen, sie sind kaum noch zu kontrollieren. Spontan denke ich über das arbiträre Moment des Kunstmarktes nach – und daran, dass es auch hier meistens um die Behauptung von Einzigartigkeit, um die Produktion von Unikaten geht. Ich denke daran, dass die Hallen der Art Basel aufgebaut sind wie Spielfelder, ganz spezifisch wie ein Roulettespiel. Ein Glücksspiel also, von dem man nicht weiß, ob der Ball ins eigene Loch fällt, selbstständig die eigene Nummer wählt – oder nicht. Rien ne va plus. In der ersten halben Stunde werden die meisten Arbeiten verkauft, so lerne ich – in der letzten halben Stunde dann noch einmal ein paar. Dazwischen passiert nicht viel. Trotzdem ist es wichtig, jederzeit anwesend zu sein – man weiß ja nie.
Ich denke an die Theorie des »Schwarzen Schwanes«, ein weiteres Tier zwischen Land und Wasser. Der Schwarze Schwan, so nennt ein römischer Satiriker aus dem 1. Jahrhundert nach Christus die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse – es ist heute auch ein Begriff aus dem Finanzwesen: die Spekulation auf ein sehr plötzliches Ereignis, das extreme Folgen auf den Markt hat, positiv oder negativ. An der Börse ist die Hoffnung auf das Unwahrscheinliche ein Wert an sich, schreibt der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl.
Ich habe mal gehört (und auch in dieser Kolumne schon einmal erwähnt), dass der Kunstmarkt prophetische Qualität hat – das heißt, dass man an ihm die Entwicklung anderer Märkte ablesen kann, weil sie immer ein paar Jahre oder Monate vorher geschieht.
Schlangenlinienförmig sind die wartenden Menschen vor den Eingängen der Messen, an den Ständen mit Free Drinks und vor den Toiletten angeordnet. Aber: Die Schlangenbildung ist nicht halb so schlimm wie bei der Eröffnung der Biennale di Venezia, einen guten Monat vorher. Das hat einen einfachen Grund: Wenn etwas verkauft werden soll, funktioniert die Organisation plötzlich viel besser.
Als ich die Messe verlasse, stolpere ich halb blind, wie durch einen Vorhang schauend, in einen Boxkampf des Boxclubs Basel hinein, der auf dem Platz vor der Kaserne stattfindet. Stundenlang schaue ich den zum Großteil noch minderjährigen Kämpfern zu bis sie k. o. gehen. Sie sehen aus, wie Cartoonfiguren, über deren Köpfen Sternchen skizziert sind. Ihre Trainer flößen ihnen durch Strohhalme Wasser ein, manchmal müssen sie aus dem Ring getragen werden.
Ich denke wieder an das Begehren, das qua Definition, unerfüllt bleiben muss, und daran, wie ein anderer alter deutscher Philosoph die Mythologie des Boxkampfes als Äquivalent für die Liebe benutzt. Zwei Liebhaber*innen werden hier als zwei gleich starke Kampfpartner*innen beschrieben: Stark genug, sich gegenseitig umzubringen, und nur deshalb fähig, sich am Leben zu lassen.
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