»Der IS stellt weiter eine Bedrohung dar«

Elham Ahmad, Außenbeauftragte der Selbst­verwaltung Nord- und Ostsyriens, über den Umgang mit IS-Gefangenen und die Rückkehr der syrischen Flüchtlinge

  • Interview: Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 6 Min.
Ein irakisches Mädchen im Flüchtlingslager Al-Hol in der syrischen Provinz Al-Hasakeh zieht einen Wasserkanister hinter sich her.
Ein irakisches Mädchen im Flüchtlingslager Al-Hol in der syrischen Provinz Al-Hasakeh zieht einen Wasserkanister hinter sich her.

Sie sind auf einer Tour durch verschiedene europäische Staaten. Was ist der Zweck Ihrer Reise?

Wegen der Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen ist Syrien von der Weltbühne verschwunden. Aber es ist wichtig, dass alle wissen, wie es derzeit aussieht in Nord- und Ostsyrien. Wir sehen es als unsere Pflicht an, besonders mit den politischen Entscheidern, aber auch mit allen zivilgesellschaftlichen Organisationen darüber zu sprechen.

Was erwarten Sie sich von der internationalen Gemeinschaft?

Auch in Europa stehen ernsthafte Veränderungen an, besonders jetzt nach den Wahlen zum Europaparlament. Wir erwarten Veränderungen in Bezug auf die Geflüchteten und meinen, Europa sollte Unterstützung dort leisten, wo die Krisen sind, von wo die Menschen fliehen, damit sie nicht weggehen müssen. Damit Flüchtlinge überhaupt nicht erst entstehen. Und die, die schon als Geflüchtete in Europa leben, sollten unterstützt werden, damit sie zurückkehren können in ihre Heimatländer. Wir als Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien haben zusammen mit der internationalen Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) gekämpft und dabei große Erfolge erzielt. Inmitten des syrischen Konflikts hat sich in einem Teil des Landes eine Verwaltung etabliert, die einigermaßen gut funktioniert. So wurden die Rechte von Frauen gestärkt und die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Nationalitäten und Ethnien verbessert. Das sollte ein Modell für das ganze Land sein – als Bollwerk gegen die Verbreitung von IS-Aktivitäten.

In Deutschland leben viele syrische Flüchtlinge. Sie möchten, dass die Bundesegierung diesen Flüchtlingen hilft, nach Syrien zurückzukehren?

Zunächst sollte der Fokus auf denjenigen liegen, die freiwillig zurückkehren wollen. Man muss alles unternehmen, um die Lage vor Ort zu verbessern, damit die Leute sicher zurückkehren können, ihnen Garantien geben.

Interview

Elham Ahmad ist eine syrische kurdische Politikerin. Seit Kurzem bekleidet sie die Rolle der Außenbeauftragten der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens. Mit einer Delegation war sie kürzlich zu Besuch in Deutschland und anderen europäischen Ländern.

Aber viele syrische Flüchtlinge müssen fürchten, dass sie vom syrischen Regime verhaftet, eingesperrt, gefoltert werden.

Wir sind gegen Zwangsabschiebungen, wenn die Bundesregierung sich aber dafür entscheidet, dann nehmen wir in Nord- und Ostsyrien gerne die Menschen auf, bevor sie anderswo gefoltert werden. Aber hierfür bräuchte es internationale Unterstützung und eine enge Zusammenarbeit mit der Selbstverwaltung

Viele Kämpfer und Anhänger des IS werden gefangen gehalten in Lagern und Gefängnissen in Nord- und Ostsyrien, darunter auch viele Ausländer, unter anderem aus Europa. Warum will die Selbstverwaltung diese Leute selbst vor Gericht stellen?

Daesch, also der Islamische Staat, hat in unserer Region schwere Verbrechen verübt: Frauen vergewaltigt, Köpfe abgeschlagen, Menschen vertrieben und zu Flüchtlingen gemacht, Eigentum geraubt. Die Betroffenen, die darunter gelitten haben, sollen mit eigenen Augen sehen, dass sie zu ihrem Recht kommen und die Täter nicht straffrei davonkommen. Die Zahl der IS-Anhänger in den Gefängnissen liegt bei 10 000; die meisten sind Syrer und Iraker, rund 2500 kommen aus Drittstaaten. Es wird schwer, alle vor Gericht zu stellen, aber besonders jene, die eindeutig schwere Verbrechen begangen haben, müssen zur Verantwortung gezogen werden.

Wäre es nicht einfacher, die Drittstaatler in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken, nach Deutschland oder Italien, sodass sie dort bestraft werden?

Viele Regierungen gehen bei dem Thema auf Distanz, wollen darüber nicht sprechen und nehmen nicht mal die Frauen zurück. Manche der IS-Kämpfer überstellen wir an die Regierungen ihrer Heimatländer. Solche Leute könnten jedoch versuchen, sich einer Verurteilung zu entziehen, indem sie mit humanitären Gründen argumentieren und vorgeben, dass sie im Rekrutierungsprozess betrogen wurden. Die großen Verbrecher werden vielleicht zu sieben Jahren Haft verurteilt und leben danach ungestört ihr Leben weiter. Deswegen sagen wir: Es ist besser, dass sie dort, wo sie diese Verbrechen begangen haben, mit Argumenten und Beweisen verurteilt werden. Und wir meinen, dass die Gerichtsbarkeit mit den betroffenen Ländern durchgeführt werden muss, also mit den Heimatländern der IS-Anhänger.

Solche Prozesse, bei denen schwere Verbrechen verhandelt werden, sind sehr komplex. Hat die Selbstverwaltung dafür ausgebildete Richter und Anwälte?

Bislang wurden IS-Kämpfer mit syrischer Staatsbürgerschaft vor Gericht gestellt. Wir haben also unsere Erfahrungen gesammelt.

Um wie viele handelt es sich?

Hunderte. Sie wurden vor Gericht gestellt und verurteilt. Bei den Ausländern ist die Situation anders. Die großen Verbrecher findet man unter den Ausländern: IS-Anhänger aus Nordafrika, aus dem Nahen Osten, mit deutschem, französischem oder britischem Pass.

Gibt es für die juristische Aufarbeitung von deutscher Seite Unterstützung?

Deutschland leistet hauptsächlich humanitäre Hilfe. Was die Gerichtsverfahren betrifft, hat die internationale Anti-IS-Koalition uns den Rücken zugekehrt. Ein, zwei Staaten helfen, aber die anderen nicht.

In Europa wird oft vor den Gefahren durch den IS für Europäer gewarnt, dabei besteht die erste Gefahr für die Menschen in Syrien, im Irak, in der Türkei. Wie sehen Sie das?

Jedes Land denkt zuerst an die Sicherheit seiner eigenen Bevölkerung. Dass IS-Kämpfer weiter in unserer Region bleiben, ist eine Gefahr auch für die Menschen hier in Europa. Aber darauf gibt es keine ernsthafte Reaktion vor Ort. Es wird nicht genug getan für die Bekämpfung der aktiven IS-Zellen. Nachdem die Türkei das Gebiet angegriffen und die Infrastruktur zerstört hat, ist die Gefahr durch den IS vor Ort größer geworden. Der IS stellt weiter eine Bedrohung dar und droht den Heimatländern der IS-Kämpfer mit Bestrafung.

Was müsste man tun?

Im Ausland meint man, dass Flüchtlingslager wie Al-Hol und Roj einfach nur geleert werden sollten. Alle wissen aber, dass das nicht einfach ist. In den Lagern leben etwa 50 000 Personen aus IS-Familien, darunter 29 000 Minderjährige. Die meisten stammen aus Syrien und dem Irak, circa 15 000 aus rund 72 Drittstaaten. Wenn man diese Lager auflösen würde, muss man im Gegenzug vor Ort pädagogische Programme für Re-Integrationsprojekte entwickeln.

Gibt es schon pädagogische Maßnahmen zur Re-Integration in die Gesellschaft?

Für Kinder gibt es Rehabilitierungszentren, aber es sind nur sehr wenige. Es müssen mehr Schulen für Kinder, aber auch für Frauen errichtet werden. Das deutsche Auswärtige Amt fördert Re-Integrationsprogramme für syrische und irakische Kinder. Die Terrorgefahr wird nicht gebannt, solange die geistigen Entstehungsgründe nicht aus der Welt geschafft sind.

Sie sagen, dass die Türkei die Infrastruktur bombardiert und das den IS stärkt. Was sollten Europa und die USA tun, um die Türkei zu stoppen?

Jedes Mal, wenn die Türkei uns angreift, werden die Terror-Zellen aktiver. Die Zerstörung der Infrastruktur führt zu Problemen bei der Wasser-, Strom und Gasversorgung. Den Vorwand, den die Türkei benutzt, um uns anzugreifen, sollten die Europäer und die US-Amerikaner nicht glauben. Unser Projekt stellt keine Bedrohung für die innere Sicherheit der Türkei dar. Als Gaza bombardiert und Infrastruktur zerstört wurde, hat Erdoğan gesagt: Das ist ein Kriegsverbrechen. Wir meinen: Genauso ist das, was die Türkei bei uns macht, ein Kriegsverbrechen. Man muss der Türkei Einhalt gebieten und eine Flugverbotszone über Nord- und Ostsyrien einrichten.

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