René Pollesch: Und das Leben dazwischen

René Pollesch ist Anfang des Jahres gestorben. Was bleibt von dem prägenden Theatermacher? Fünf nd-Autoren haben noch einmal hingesehen

Beschwingt denken

Ein Theater verabschiedet sich: »Schmeiß dein Ego weg und feier was du liebst – Für René« an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.
Ein Theater verabschiedet sich: »Schmeiß dein Ego weg und feier was du liebst – Für René« an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

»Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer«, Wiener Festwochen/Volksbühne, Premiere 5. Juni 2021

Was ist das denn? Ein Theaterstück oder ein Tanzfilm? Es läuft Musik aus »La La Land«, Leute tanzen, also muss es ein Tanzfilm sein. Oder sind wir doch in einem Filmstudio in Hollywood im Jahr 1938? So wie der Zuschauer in »Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer« nach Minuten bereits keinen festen Handlungsboden mehr finden dürfte, geht es auch Martin Wuttke, der über die Bühne schlittert oder in einem Spinning-Room landet. Dabei handelt es sich um einen Raum, der sich so dreht, dass es für die Kamera aussieht, als würde man über die Wände oder die Decke laufen.

Der Volksbühnen-Intendant René Pollesch ist vor einigen Monaten verstorben. Hier finden Sie einen Nachruf von Erik Zielke.

»Unter Drehen habe ich mir was anderes vorgestellt«, mault Wuttke. Und man selbst hat sich womöglich unter »Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer« auch etwas ganz anderes vorgestellt, obwohl die Titelheldin noch auftaucht – ohne Gewehre allerdings. Doch das ist bei diesem Abend von René Pollesch, der zu seinen rätselhaftesten, aber auch beschwingtesten gehört, völlig egal. Leute tanzen, eine Krankamera schwingt umher, es sieht aus wie ein Tanzfilm und dann wieder nicht; auch das völlig egal. Ganz offensichtlich haben die Leute auf der Bühne einen großen Spaß und den hat man auch als Zuschauer. Was einem Freude macht, kann man womöglich – schrecklicher Verdacht – gar nicht genau benennen. Jakob Hayner

Nachsitzen

»Liebe, einfach außerirdisch«, Deutsches Theater Berlin, Premiere 1. Juli 2022

Ist dieses Stück wirklich von René Pollesch? Entspringt es einer Suchfrage bei ChatGPT? Hat hier überhaupt jemand etwas geschrieben? War es am Ende ein genialischer Schachzug des Hochgeschwindigkeitsregisseurs, der beweisen wollte, dass seine Texte am biederen Deutschen Theater Berlin mit seinem Heinrich-Böll-Stiftungs-Publikum von gegenüber nicht funktionieren und man besser gleich in die Volksbühne geht? Ab der nächsten Spielzeit landet die Inszenierung am Schauspielhaus Zürich, wo sie vielleicht ihr Publikum finden wird.

Das sind Fragen, die einen während der sehr pennälerhaften 90 Minuten begleiten. Sicher, es geht um Sex, Aliens, einen Radarforscher und Kapitalismus, passt thematisch durchaus zum verstorbenen Intendanten. Dass es zwischendrin Ramones gibt, kracht und scheppert, ist natürlich auch völlig Pollesch. Und ja: Sophie Rois spricht den Text, als wäre sie die Regisseurs-Symbiontin (oder war Pollesch der Symbiont und sie die Wirtin?).

Aber das ganze banale Geschwafel! Die Abiturientenwitzchen über Sex, die vom post-abiturientalen Publikum mit dem vorhersehbaren Gelächter bedacht werden! Die Kuchenstücke, die man sich gegenseitig ins Gesicht schmiert! Das ist alles so traurig, so niederschmetternd. Nicht so traurig wie der Tod des großen Pollesch zugegebenermaßen. Raul Zelik

Wir Hellhörigen

»Geht es dir gut?«, Volksbühne, Premiere 24. März 2022

René Pollesch zeigt den Abgrund mitten im Alltag. Der Rückweg nach der Corona-Pandemie in die Normalität bleibt offenbar versperrt. Darum geht es in diesem Ein-Personen-Stück – fast schon eine Flugschrift! – mit dem großartigen Fabian Hinrichs. Obwohl laut verkündet wurde, dass nun wieder alle Türen offenstehen. Er aber bleibe »drinnen vor der Tür«.

Ich habe noch die düsteren Worte im Ohr: »Wir werden Gespenster sein.« Gerade habe er in seiner Wohnung fast alle Wände herausgerissen, um das Esszimmer zu vergrößern. Falls wieder Gäste kommen. Ein ritueller Befreiungsakt, jedenfalls zur Hälfte. Denn seine Küche hat er schon lange nicht mehr betreten. So havariert die Sehnsucht nach Gemeinschaft mit der eingeübten Isolation. Herrscht nach dem Ende des Ausnahmezustandes denn wieder Normalität? Nein, der Ausnahmezustand hat sich offenbar in unserem Innern festgesetzt.

Pollesch: ein hochempfindlicher Seismograf der von ihm genau benannten alltäglichen Verwerfungen, die doch immer auch Ausläufer der Verwerfungen im Gefüge der Welt sind. Überall Rückschritte und Zerstörungen – aber vielleicht auch ein Zuwachs an innerem Resonanzraum. Wir seelisch Beschädigten sind hellhöriger geworden. Gunnar Decker

Ohne Pause

»Und jetzt?«, Volksbühne, Premiere 2. Dezember 2022

Es wäre schön, würde »ein Blitz endlich mal blitzartig auf Missstände reagieren«. Inflation? Der Blitz schlägt ein. Ein Angriffskrieg? Der Blitz schlägt ein. Rechtsextremismus? Der Blitz schlägt ein. Problem gelöst. Ganz einfach, wie »im Agitproptheater«. Dumm nur, dass die Blitze, die in »Und jetzt?« niedergehen, die Missstände – wahlweise Menschen – beim Einschlag zerreißen. Und zwar genau so, wie es beim Denken passiert.

Denn: Einfach ist nichts, das Leben schon gar nicht. Zumal wenn man es unter dem Aspekt des Solidarischen vollzieht, was bei den drei Spielern dieses Abends, Martin Wuttke, Milan Peschel und Franz Beil, wiederum bedeutet: reden ohne Pause – und zwar miteinander. Der Sachbearbeiter mit dem Schauspieler, der Schauspieler mit dem Arbeitsleiter, der Arbeitsleiter mit dem Nachtwächter, im Petrolchemischen Kombinat Schwedt ebenso wie an der Volksbühne. Ein ewiges Bereden der Weltlagen, ohne Belehrungen. Vielmehr geht es darum, »im Denken das größtmögliche Paradox anzustreben«.

Das ist die Pollesch-Philosophie, die uns der Autor und Regisseur nach Pandemiejahren, Ukraine-Krieg und einer ins Rechtsextreme gekippten Europawahl hinterlässt. »Und jetzt?« Natürlich! »Es muss weitergehen.« Die letzte Regieanweisung lautet: »Die Spieler gehen nach hinten und bereden sich weiter.« Dorte Lena Eilers

Scheißtraurig

»ja nichts ist ok«, Volksbühne, Premiere 11. Februar 2024

»Siri, spiel mir das Lied vom Tod«, weist Fabian Hinrichs die scheinintelligente Technologie in der WG an, in der das wirkliche Sprechen miteinander längst aufgegeben wurde. »Ich sterbe – unter unvorstellbaren Qualen«, sagt er an diesem Abend mit dem alles einschließenden und klaren Titel »ja nichts ist ok«, und auch den Satz: »Ich bin scheißtraurig.« Scheißtraurig, ja. Bei diesen Worten, bei dem erdrückenden Bild zum Schluss, für das sich Hinrichs unter den Körpern der Choristen begraben lässt, kann man nicht anders, als den Tod René Polleschs mitzudenken, als sich vor Augen zu führen, was diese Inszenierung ist: der Schlusspunkt eines Lebenswerks, auch der Höhepunkt einer kongenialen Zusammenarbeit zwischen dem Autor-Regisseur Pollesch und dem Autor-Schauspieler Hinrichs.

Was so zärtlich-klug über die von Anna Viebrock ausgestattete Bühne (für die sie kurzerhand ihre Einrichtung des Salzburger »Falstaff« recycelte) geht, ist nicht mehr nur scheißtraurig, sondern scheißzutreffend. Die Gesellschaft verhält sich, angesichts von Krieg und noch mehr Krieg, wie eine altgewordene WG, wo sich niemand mehr etwas zu sagen hat. Es bleiben Vorhaltungen in Sachen Putzplan und Rausschmissdrohungen. Über die eigentlichen Fragen kann man nicht mehr reden, nur noch verzweifeln. Der Rest – Schweigen. Erik Zielke

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