Kita-Streik in Berlin: Alleine vor 17 Kleinkindern

Kita-Beschäftigte streiken für kleinere Gruppen

SOS-Zeichen am Rathaus Charlottenburg: Verdi-Streikkundgebung am Montag
SOS-Zeichen am Rathaus Charlottenburg: Verdi-Streikkundgebung am Montag

Bewachen statt erziehen: »Manchmal können wir nicht mehr machen, als in der Tür stehen und aufpassen, dass keine Kinder weglaufen«, sagt Veronika. Sie arbeitet als Erzieherin bei einer Kita in Spandau. Weil zu viele Kinder auf zu wenig Erzieher kommen, bleibe kaum Zeit für die Betreuung. »Massenabfertigung« nennt Veronika die Verhältnisse in den Kitas, »viele Kinder überstehen das nicht gut«. Auffälliges Verhalten häufe sich. »Manche Kinder schreien von dem Moment, in dem sie zur Kita gebracht werden, bis zu dem Moment, wenn sie abgeholt werden«, sagt Veronika. Andere würden altersuntypisch komplett ruhig und kaum noch sprechen.

Gemeinsam mit etwa 2500 Kollegen steht sie am Montag vor dem Rathaus Charlottenburg. Die Gewerkschaft Verdi hat die Erzieher zum Streik aufgerufen – für volle fünf Tage. Unter ihnen ist auch Burak. Er arbeitet in Lichtenberg als Erzieher in einer Kita. »Die Gruppen sind viel zu groß«, sagt er. Eigentlich sehe der gesetzliche Personalschlüssel ein Verhältnis von fünf Kindern auf einen Erzieher vor. Doch tatsächlich liege die Zahl deutlich höher. Würden dann noch Kollegen krank, werde es schnell eng. Manchmal stehe er dann alleine vor 17 Kindern. »Dann geht es nur noch darum, den Tag irgendwie durchzustehen«, so Burak.

Mit dem Tarifstreit will Verdi erreichen, dass die Gruppengrößen begrenzt werden. Dafür soll ein eigener Tarifvertrag »Pädagogische Qualität und Entlastung« mit dem Senat abgeschlossen werden. Seit April hat es deswegen bereits mehrere Warnstreiktage gegeben. Betroffen davon sind allerdings ausschließlich die sogenannten Eigenbetriebe – also Kitas unter Trägerschaft des Landes. In ihnen werden etwa 20 Prozent der Berliner Kita-Kinder betreut. Für Kitas in freier Trägerschaft ist das Tarifgeflecht deutlich komplexer.

»Es geht um eine Verbesserung des Fachkraft-Kind-Schlüssels«, sagt Verdi-Gewerkschaftssekretärin Tina Böhmer »nd«. Aktuell bleibe kaum Zeit, um Auszubildende zu begleiten oder Weiterbildungsangebote wahrzunehmen. Darunter leide die Qualität der pädagogischen Arbeit. Der Bildungsauftrag der Kitas könne so nicht erfüllt werden.

Wie aber kann es funktionieren, mit der gleichen Zahl von Erziehern kleinere Gruppen einzurichten? Böhmer baut darauf, dass weniger Erzieher in Teilzeit arbeiten würden, wenn die Arbeitsbelastung geringer wäre. Auch die Zahl von Berufsabbrechern könnte dann sinken, hofft Böhmer. »Es geht darum, Kollegen zu halten und neue für diesen Beruf zu gewinnen.« Sollte der tariflich festgeschriebene Schlüssel nicht eingehalten werden, soll es einen Belastungsausgleich für die Beschäftigten geben, so die Verdi-Forderung.

Der Streik sorgt nicht überall für Begeisterung. »Wir fordern ein sofortiges Ende der Berliner Kita-Streiks durch Verdi«, heißt es in einer Petition der Dachverbände der Kita-Eigenbetriebe, die seit Freitag online steht. »Politischer Streit darf nicht länger auf dem Rücken der Kinder, Eltern und Kitas ausgetragen werden.« Die Tarifforderungen seien weder »praxistauglich noch umsetzbar«. Würden die Forderungen durchgesetzt, so die Eigenbetriebe, wäre die Gleichwertigkeit der Betreuungsangebote gefährdet. Denn ein separater Tarifvertrag für die Eigenbetriebe würde zu einer Spaltung der Kita-Anbieter führen.

»Manchmal können wir nicht mehr machen, als in der Tür stehen und aufpassen, dass keine Kinder weglaufen.«

Veronika Erzieherin

In den vergangenen Jahren hätten die Eigenbetriebe bereits Fortschritte beim Personalschlüssel und der praktischen Unterstützung der Erzieher gemacht. Ohnehin seien die Kitas die falschen Adressaten für den Streik, weil der Senat für die Tariffragen zuständig sei.

»Die Träger verpassen hier eine Chance«, kritisiert Gewerkschaftssekretärin Tina Böhmer. Statt den Streik zu unterstützen und ihm damit mehr Durchschlagskraft zu verleihen, redeten sie die Situation gegenüber Politik und Öffentlichkeit schön.

Auch tarifrechtlich gibt es größere Bedenken gegen das Vorhaben von Verdi. Die Tarifverträge für die Erzieher in den Kitas der Eigenbetriebe werden mit der Tarifgemeinschaft der Länder ausgehandelt, der bis auf Hessen alle Bundesländer angehören. Das soll ähnliche Arbeitsbedingungen im gesamten Bundesgebiet garantieren. Würde Berlin einen eigenen Tarifvertrag für die Gruppengrößen einführen, wäre diese Einheitlichkeit gefährdet. Berlin würde seine Mitgliedschaft in der Tarifgemeinschaft gefährden. Aus diesem Grund versandet ein ähnliches Tarifvorhaben der GEW im Schulbereich bereits seit drei Jahren.

Verdi-Funktionärin Tina Böhmer kann diese Bedenken nicht verstehen. »Wo ein politischer Wille ist, ist auch ein Weg«, sagt sie. Im Bereich der Krankenhäuser seien bereits Tarifverträge ausgehandelt worden, die auch Fragen der Personalbemessung umfassen – ohne dass dies zu einem Ausschluss aus der Tarifgemeinschaft geführt habe.

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