Acht Prozent der Bevölkerung in Gaza könnten tot sein

Fachmagazin schätzt 186 000 Tote durch die israelischen Angriffe, UN-Sonderberichterstatter sehen Hungersnot

Palästinensische Arbeiter bestatten Leichen im Gazastreifen. Selbst wenn der Konflikt sofort beendet würde, wird es weitere Todesfälle, etwa durch Krankheiten, geben.
Palästinensische Arbeiter bestatten Leichen im Gazastreifen. Selbst wenn der Konflikt sofort beendet würde, wird es weitere Todesfälle, etwa durch Krankheiten, geben.

Kaum eine Frage im Gaza-Krieg ist so umstritten wie Zahl der durch israelische Truppen verursachten Toten und Verletzten – und ob diese als Reaktion auf die Angriffe der Hamas vom 7. Oktober gerechtfertigt sind. Nach offiziellen Angaben sollen bereits 38 193 Menschen im Gazastreifen gestorben sein, 87 903 wurden demnach verletzt. Die Zahlen stammen vom Gesundheitsministerium in Gaza und werden auch von den Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation verbreitet.

Stets aktualisierte Zahlen gibt es auch zu den in Ausübung ihrer Tätigkeit getöteten Pressevertretern: Das als renommiert geltende Committee to Protect Journalists (CPJ) verzeichnet dazu seit Beginn des Gaza-Krieges mindestens 108 Journalisten und Medienarbeiter als Todesopfer. Der Zeitraum ist demnach der tödlichste seit Beginn der Datenerfassung durch das CPJ im Jahr 1992.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Die Wissenschaftler Rasha Khatib, Martin McKee und Salim Yusuf haben nun im medizinischen Fachmagazin »The Lancet« eine neue Schätzung veröffentlicht, die weit über den offiziellen Prognosen liegt. Demnach könnten bis zu 186 000 oder sogar mehr Todesfälle »auf den aktuellen Konflikt im Gazastreifen zurückzuführen sein«. Im Jahr 2022 sollen rund 2,4 Millionen Menschen dort gelebt haben. Die Toten würden demnach 7,9 Prozent der Gesamtbevölkerung in Gaza entsprechen.

Für ihre Annahme legten die drei Wissenschaftler Forschungen anderer jüngerer bewaffneter Konflikten zugrunde, bei denen die Zahl der »indirekten Todesfälle« drei- bis 15-mal so hoch war wie die Zahl der »direkten Todesfälle«. Eingerechnet werden dabei gesundheitliche Auswirkungen, die über die direkten Schäden durch Gewalt hinausgehen. Selbst wenn der Konflikt sofort beendet würde, wird es der Schätzung zufolge in den kommenden Monaten und Jahren weitere Todesfälle etwa durch Krankheiten geben.

Ein Problem bei der Zählung von Toten und Verletzten ist, dass vermutlich eine fünfstellige Zahl von Menschen noch unter den Trümmern Tausender bombardierter, gesprengter oder in Brand gesetzter Gebäude begraben liegt. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen waren bereits bis zum 29. Februar über ein Drittel der Gebäude nach israelischen Angriffen im Gazastreifen unbewohnbar zerstört.

Zudem können bei weitem nicht alle Opfer identifiziert und damit offiziell für tot erklärt werden. Die Erhebung dieser Daten wurde für das Gesundheitsministerium im Gazastreifen erschwert, nachdem das Al-Schifa-Krankenhaus von israelischen Soldaten zerstört wurde. Es diente als zentrale Todesregistrierungsstelle, bestätigt der britische Arzt Ghassan Abu-Sittah, der nach Beginn des jüngsten Gaza-Krieges in dem Krankenhaus in Gaza-Stadt als Chirurg gearbeitet hatte.

Abu-Sittah hält die Zahlen von »The Lancet« für glaubwürdig, aber noch unterschätzt, sagte er auf Anfrage des »nd«. Womöglich werden diese Zahlen auch nie tatsächlich bekannt: Die Behörden in Gaza verfügen kaum über Möglichkeiten, die Menschen aus dem Schutt zu bergen.

»Ein sofortiger und dringender Waffenstillstand im Gazastreifen ist unabdingbar, begleitet von Maßnahmen, die die Verteilung von medizinischen Hilfsgütern, Nahrungsmitteln, sauberem Wasser und anderen Ressourcen für die menschlichen Grundbedürfnisse ermöglichen«, fordern die Wissenschaftler in ihrem Beitrag in »The Lancet«.

Derweil hat sich die Situation für die Bevölkerung drastisch verschlechtert. So gibt es im gesamten Gazastreifen bereits eine Hungersnot, berichteten elf Sonderberichterstatter und Experten der Vereinten Nationen am Dienstag und nennen dies einen »Genozid«. Der Tod auch von vielen Kindern durch Unterernährung und Dehydration belege, dass die israelischen Angriffe viele Gesundheits- und Sozialstrukturen stark geschwächt haben, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung.

Sonderberichterstatter sind unabhängige Experten, die vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen beauftragt werden, bestimmte Ländersituationen oder thematische Fragen weltweit zu beobachten. Sie arbeiten ehrenamtlich, sind unabhängig von Regierungen und Organisationen und erhalten kein Gehalt für ihre Arbeit. »Wir fordern die internationale Gemeinschaft auf, humanitäre Hilfe auf jeglichem Weg zu priorisieren, die israelische Belagerung zu beenden und einen Waffenstillstand zu etablieren«, heißt es in ihrer Erklärung.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -