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Zwischen Kuchen und Kaiser
Der vaterländische Hilfsdienst pflegt die Tradition des Deutschen Reichs und träumt von einem totalitären Staat
Ein leicht beißender Geruch von Maschinenöl und Metall liegt in der Luft. Im Industriemuseum Chemnitz hat sich eine Gruppe von rund 30 Personen um den Nachbau einer alten Schlosserei versammelt. Schwarze Geräte sind mit Bändern verbunden, die über größere und kleinere Spulen gewickelt sind. Vor der Werkstatt steht Bodo Heinze, ein älterer Herr mit grauen Haaren und einer Brille, der die Gruppe durch das Museum führt. Im Hintergrund hallen Motorengeräusche durch den großen Raum, in dem neben vielen anderen Ausstellungsstücken auch eine Schlosserei untergebracht ist. Zu sehen gibt es hier sächsische Industriegeschichte aus den vergangenen 220 Jahren.
Überwiegend Männer mittleren Alters sowie ein paar Frauen und zwei Kinder lauschen gespannt den Worten Heinzes, der durch das große, aus rotem Backstein gefertigte Gebäude von Maschine zu Maschine führt. Dass die Besichtigung von einer Reichsbürger*innen-Gruppierung vaterländischer Hilfsdienst (VHD) gebucht wurde, hätten weder Heinze noch das Industriemuseum Chemnitz gewusst, erklärt der Museumsleiter Jürgen Kabus in einem Telefongespräch einige Wochen später: »Die Gruppe hat die Führung als private Gruppe angefragt, wie viele andere Gruppen auch. Ich bin nicht für einen Background-Check zuständig, zumal wir als öffentliche Institution einen Gleichstellungsauftrag haben. Sie hatten auch keine Symbole dabei oder tätigten Aussagen in diese Richtung.« Um die Gruppe vor Ort als VHD identifizieren zu können, hätte es durchaus etwas Vorwissen und einen sehr detaillierten Blick auf die einzelnen Teilnehmer*innen gebraucht. Der einzige offensichtliche Hinweis: die Anstecknadel einer der Frauen, die das Symbol des VHD abbildet.
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Paramilitärische Vorfeldorganisation
In einer Broschüre, die der vaterländische Hilfsdienst in klassischer Papierform verbreitet, heißt es: »Der deutsche Staat ist mangels verfassungsmäßiger Organe seit November 1918 handlungsunfähig.« Die Bundesrepublik, wie sie heute existiert, wird als Privatunternehmen abgetan und das Grundgesetz nicht anerkannt. Stattdessen gälten weiterhin die Verfassung von 1871 und die territoriale Einteilung des Deutschen Reichs von 1918. Weiter heißt es: »Der am 31. Juli 1914 erklärte Kriegszustand wurde zu keiner Zeit auf dem verfassungsmäßigen Weg legitim wieder aufgehoben.« Nach Auffassung des VHD befindet sich das Land bis heute im Krieg. Deshalb hat sie das Deutsche Reich, in dem wir nach Ansicht der Gruppierung nach wie vor leben, in 24 sogenannte Armeekorpsbezirke eingeteilt. Diese erstrecken sich auch über Teile Frankreichs, Belgiens, Dänemarks, Russland, Litauens und Polens. Der VHD erfüllt dabei die spezielle Aufgabe einer sogenannten Vorfeldorganisation und wird als paramilitärisch bezeichnet.
Seit Januar 2020 ist die Gruppe wieder aktiv, nachdem sie von drei Reichsbürgern erneut ins Leben gerufen wurde. Diese Männer betiteln sich in der Broschüre des VHD selbst als »Preußen«; sie sind die einzigen Personen, die genannt werden. Nur ihre Vornamen werden preisgegeben, Sascha, Enrico und Andreas. Das klingt nach einem familiären Freizeitverein.
»Der vaterländische Hilfsdienst wurde im Ersten Weltkrieg geschaffen«, erklärt Patricia Vernhold vom Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen. »Er produzierte für das Militär Messer, Patronen, Töpfe und alles, was eben für die Front gebraucht wurde.« In seiner heutigen Form steht der vaterländische Hilfsdienst in der Tradition dieser damals agierenden Organisation.
Neben der »Aufklärungsarbeit« über die Delegitimierung der Bundesrepublik Deutschland beschäftige sich der VHD vor allem mit Brauchtums- und Traditionspflege, erklärt Benjamin Winkler von der Amadeu-Antonio-Stiftung. »Aber auch mit sozialen Hilfstätigkeiten beziehungsweise damit, eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten zu bilden.«
Unauffällige Reichsbürger*innen
Die Gemeinschaft von Gleichgesinnten pflegen und die Tradition bewahren: Diese Aspekte erfüllt auch der Museumsbesuch in Chemnitz. Gemeinsam verbringt die Gruppe einen Samstagnachmittag, an dem sie über sächsische Erfindungen lernt. Die Einladung zu diesem Ausflug wurde nicht öffentlich ausgeschrieben oder in sozialen Medien bekannt gegeben. Generell sei der vaterländische Hilfsdienst medial sehr wenig präsent, sagt Patricia Vernhold. Das sei auch einer der Hauptunterschiede zu anderen Reichsbürger*innen-Gruppierungen: »Für uns ist er deshalb auch unangenehmer, weil er schwieriger zu greifen ist.« Das stellte sich auch bei dieser Recherche als Problem dar.
Der vaterländische Hilfsdienst kommuniziert entweder mündlich im vertrauten Kreis oder mit dem Messengerdienst Telegram. Deshalb wurde Julia M. erschaffen. Eine Fake-Identität, die in Telegramgruppen aufgenommen wurde und ein Stück in die Welt der Mitglieder des vaterländischen Hilfsdienstes eintauchen konnte. Der Eintritt in den Telegramchat war mit dem Ausfüllen eines Kontaktformulars über die Website des VHD möglich. Da Julia in Leipzig wohnt, wurde sie vom sogenannten Meldedienststellenleiter Torsten dem 19. Armeekorpsbezirk und der dazugehörigen Telegram-Gruppe zugeordnet.
In der Telegramgruppe wird Julia mit »Glück auf« begrüßt, und ab diesem Zeitpunkt liest sie mit. Auch mit Torsten schreibt Julia in den nächsten Wochen auf Telegram, stellt Fragen zur Finanzierung der Gruppe und seiner Rolle im VHD. Torsten antwortet immer freundlich, aber ausweichend. Er suche beim VHD vor allem nach der Wahrheit. Er ist auch als Moderator in der Gruppe des 19. Armeekorpsbezirkes aktiv, die Mehrheit der Nachrichten in der Gruppe stammen von ihm. In der Telegramgruppe wird auch der Besuch in das Chemnitzer Industriemuseum angekündigt und beworben. Das Treffen wird in der Gruppe von einem Ronny geteilt, die Anmeldung läuft jedoch über einen Robert aus dem 12. Armeekorpsbezirk. Die regionalen Gruppen sind eng miteinander vernetzt. Julia nimmt daran nicht teil, aber wir beobachten den Besuch aus einiger Entfernung.
Im Industriemuseum Chemnitz stellen die Teilnehmer*innen dem Museumsführer Heinze interessiert Fragen und tauschen sich untereinander aus. Ihr Kleidungsstil ist unauffällig und lässt nicht auf eine rechte Gesinnung schließen, eher Brille, Jeans und Nike-Turnschuhe. Sie wirken weder aggressiv noch aus der Zeit gefallen. Auch die Bilder, die sie von Treffen auf ihrer Website veröffentlichen, versprühen keine angsteinflößende Stimmung. In der VHD-Telegramgruppe verabreden sie sich zum Kuchenessen, versteigern Apfelbäume oder Bilder von Friedrich dem Großen, um die Arbeit des VHD zu finanzieren. Eine ernstzunehmende Gefahr ist zu diesem Zeitpunkt der Recherche nicht zu spüren.
Doch dann meldet sich der Meldedienststellenleiter Torsten per Privatnachricht. Er informiert Julia darüber, dass sie nun die Orientierungsstufen eines Onlinetests erfolgreich absolvieren müsse, woraufhin ein persönliches Gespräch mit ihm folge, um schließlich tatsächliches Mitglied des vaterländischen Hilfsdienstes zu werden. Für den Onlinetest muss Julia fünf Orientierungsstufen durchlaufen, in denen sie über die Ideologie des VHD unterrichtet wird.
Während der Bearbeitung wird das Gefühl in Bezug auf den vaterländischen Hilfsdienst zunehmend mulmiger. Das Wissen, das man zur Beantwortung der Prüfungsfragen braucht, können sich angehende Mitglieder über Lernvideos aneignen. Darin zitiert wird beispielsweise eine Bekanntmachung zum vaterländischen Hilfsdienst aus dem Jahr 1917: »Hilfsdienstpflichtige haben das Recht zum Waffengebrauch und zur vorläufigen Festnahme in gleicher Weise, wie es militärischen Wachen verliehen ist.« Darüber hinaus verharmlosen sie Adolf Hitler, indem sie ihn als »gewählten Demokraten« bezeichnen.
Während das Landesamt für Verfassungsschutz keine Kenntnis über Verbindungen in die rechtsextreme Szene hat, werden auf der Webseite des VHD Verbindungen dorthin deutlich. Auf einem Foto von einem Treffen des VHD in Wurzen ist Rainer Umlauft zu sehen. Er war als Kandidat für die Freien Sachsen 2022 bei der Oberbürgermeisterwahl in Grimma angetreten. Im Jahr darauf wurde er im Zusammenhang mit Corona-Protesten verurteilt, im März 2024 starb er.
Auch Benjamin Winkler von der Amadeu-Antonio-Stiftung erkennt eine Gefahr, die von der Gruppierung alleine deshalb ausgehe, weil sie »enorme Geschichtslügen verbreitet«, Deutschlands Schuld an den Weltkriegen leugnet und Verschwörungsmythen sowie Antisemitismus fördert. Der VHD gibt auch dem Judentum Schuld an der Beteiligung Deutschlands an den Kriegen. Zunächst wirke der VHD wie eine Wohlfahrtsorganisation, sagt Winkler. Dadurch könne er Menschen anziehen, die bisher nicht radikalisiert sind. Die Gruppierung biete jedoch Potenzial für weitere Radikalisierungen. »Wer einmal vor Ort mitmacht, bei dem ist es sehr wahrscheinlich, dass er sich mindestens in dieser Reichsbürgerszene bzw. Staatsdelegitimierer-Szene weitere Kontakte verschafft«, ist er sicher. Eine offene Flanke zum Rechtsextremismus sei unverkennbar. Winklers Einschätzung fällt daher klar aus: »Der VHD ist eine verfassungsfeindliche, reichsideologische, rechtsextreme Organisation.«
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