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Forschung des DISS: Gegen die »BrandSätze«

Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) prägte die Kritische Diskursanalyse, nun ist es finanziell in Not

  • Lukas Geisler
  • Lesedauer: 7 Min.
Bei dem Brandanschlag in Mölln im November 1992 wurden drei Menschen getötet. Die rassistischen Diskurse, die dem vorausgingen, hatte zuvor das DISS als »BrandSätze« analysiert.
Bei dem Brandanschlag in Mölln im November 1992 wurden drei Menschen getötet. Die rassistischen Diskurse, die dem vorausgingen, hatte zuvor das DISS als »BrandSätze« analysiert.

»Bevor wir zu antirassistischen Strategien vordringen können«, schreiben Margarete und Siegfried Jäger in einer Sonderausgabe zu Antirassismus der Zeitschrift »Das Argument« aus dem Oktober 1992, »scheint es uns erforderlich, herauszufinden, wie er sich im Alltagsbewusstsein darstellt, woraus er sich speist, welche Funktion(en) er für heutige Gesellschaften hat«. Zu diesem Zweck hatten sie 1991 und 1992 qualitative Interviews geführt, die sie diskursanalytisch ausgewertet haben. Die Ergebnisse sind ausführlich in ihrer Studie »BrandSätze. Rassismus im Alltag« dokumentiert, die erstmals im Mai 1992 veröffentlicht wurde. Darin legen sie ausdrücklich dar, dass »Rassismus kein Problem irgendwelcher Randgruppen«, sondern »in der Mitte unseres Alltags angesiedelt ist«.

Dass solche Erkenntnis heute in antirassistischen Diskussionen selbstverständlich erscheinen, daran haben Siegfried und Margarete Jäger einen entscheidenden Anteil. Zeitgleich zu Forschungsprojekten am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main (IfS) und den theoretischen Publikationen des Argument-Verlags führten die beiden die ersten empirischen Untersuchungen zu (Alltags-)Rassismus in Deutschland durch.

Notlage kritischer Wissenschaft

1987 gründeten Margarete Jäger und ihr Mann Siegfried, der 2020 im Alter von 83 Jahren verstorben ist, das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Bis heute – 37 Jahre später – wird hier unabhängig zur extremen Rechten und völkischem Nationalismus, zu Rassismus, Antiziganismus, Antifeminismus und Antisemitismus sowie natürlich zur Diskurstheorie geforscht.

»Unsere Forschung war immer prekär, aber so wie heute war es noch nie.«

Margarete Jäger Sprachwissenschaftlerin

Margarete Jäger, Vorsitzende des DISS, erklärt: »Unsere Forschung war immer prekär, aber so wie heute war es noch nie.« Das DISS befindet sich in einer finanziellen Notlage, denn ein größeres Projekt wurde »unerwartet nicht bewilligt«. Dies habe auch mit strukturellen Bedingungen der Wissenschaftslandschaft in Deutschland zu tun. Durch die immer schlechter werdende Grundfinanzierung von Universitäten und großen Forschungseinrichtungen müsse das DISS mittlerweile in der Akquise von Forschungsmitteln mit diesen konkurrieren.

»Deshalb haben wir uns diesmal dazu entschlossen, öffentlich auf unsere finanzielle Situation aufmerksam zu machen und einen Notruf rauszusenden«, erklärt Jäger. Darin bittet das Institut um Spenden in Form von Fördermitgliedschaften, »damit wir die Infrastrukturkosten bewältigen können, also die Miete und das Archiv«. Die meisten Mitarbeitenden seien ehrenamtlich beim DISS tätig, um aber Personal zu bezahlen, sei man auf Drittmittel angewiesen.

Das DISS verstehe sich als Ort wissenschaftlicher Debatte und liegt in der Duisburger Altstadt unweit des Innenhafens. Im Gründerzeithaus unterhält das DISS ein Archiv der Publikationen der extremen Rechten, eine Bibliothek, die sich über alle drei Etagen, Souterrain, Hochparterre und die erste Etage, erstreckt, Büroräume und einen Seminarraum. »Wir haben regelmäßig Praktikantinnen und Praktikanten zu Gast, die aus der ganzen Bundesrepublik kommen«, sagt Jäger. Für sie ist das DISS ein »Ort der Kommunikation«, wo eigentlich immer etwas los sei.

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Die Arbeit laufe vor allem in den Arbeitskreisen. Seit Beginn gebe es beispielsweise den Arbeitskreis Rechts. »Wir haben auch eine Diskurswerkstatt, wo einmal monatlich neuere diskursanalytische Ansätze und Publikationen diskutiert werden und auch über aktuelle Diskursentwicklungen«, erklärt sie. Weitere Arbeitskreise bestehen zu Migration, Antisemitismus und Antiziganismus.

Zudem gibt es heute eine über 50 Bücher umfassende Schriftenreihe, die »Edition DISS«, die beim Unrast-Verlag erscheint. »Früher haben wir Bücher selbst verlegt, aber wollten ja eigentlich forschen, nicht veröffentlichen«, erzählt sie und lacht. Das Einzige, was das DISS noch selbst herausgibt, ist das »DISS-Journal«, die Institutszeitschrift, die ungefähr zweimal im Jahr erscheint. »Manchmal machen wir dies auch gemeinsam mit der Zeitschrift ›kultuRRevolution‹, die von Jürgen Link herausgegeben wird, der einen wichtigen Bezugspunkt für unsere Forschungsmethode darstellt.«

Inspiriert von Foucault

Über Jürgen Link und seine Zeitschrift »kultuRRevolution«, die 1982 gegründet wurde, seien Margarete und Siegfried Jäger damals auf Michel Foucault gestoßen und »sehr stark inspiriert« worden. »Auf Grundlage dessen haben wir dann ein methodologisches Konzept entwickelt, wie man das Gewimmel der Diskurse strukturieren, handhabbar machen und zu qualitativ gesicherten Aussagen kommen kann«, erklärt sie. Anders als im orthodoxen Marxismus, wo Sprache als Widerspiegelung begriffen wurde, »führen Diskurse ein eigenständiges Leben«; sie besitzen also eine eigene Materialität, die den Rahmen dessen vorgibt, was gesagt und gedacht werden kann. Wichtig sei also die Forschungsmethode, die sie am DISS in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben: die Kritische Diskursanalyse (KDA).

Die dazugehörige Einführung, die bereits in siebter Auflage vorliegt, wurde von Siegfried Jäger entwickelt. Die KDA versteht sich als offene »Werkzeugkiste«, deren Methode sich allerdings nicht an beliebigen sozialwissenschaftlichen oder linguistischen Verfahren bediene, wie Siegfried Jäger schreibt, sondern »sie ist dicht an eine Theorie rückgebunden: die Foucault’sche Diskurstheorie«. Nur am Rande sei die Diskursanalyse an Sprache interessiert, ihr Fokus gilt den »Inhalten und Verhältnissen, die sie kritisiert«. Diskurse könnten auf Gefahren hinweisen, die noch nicht aktuell sind, und damit als »Frühwarnsysteme« dienen.

Nicht umsonst habe man die Publikation von Mai 1992 »BrandSätze« genannt, wie Margarete Jäger betont. Das war noch vor den Brandanschlägen in Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen, und »die Schreibweise, die Doppeldeutigkeit, hat ja einen Grund«. In den Analysen hätten sie festgestellt, dass die Menschen »potenziell bereit sind, den Knüppel in die Hand zu nehmen und die ›Ausländer‹, wie es damals noch hieß, aus ihrem Vorgarten rauszuprügeln«. Teilweise wurde es ausgesprochen, bei anderen war es latent vorhanden. »Das hat sich dann tatsächlich auch gezeigt.«

In diesem Sinne sei die KDA auch politisch, denn sie soll, wie Siegfried Jäger in der Einführung schrieb, »Mut zum Widerstand« machen und Wege suchen, wie in Diskurse interveniert werden kann.

Eine überarbeitete Auflage der Einführung in die KDA erscheint in den nächsten Monaten. Gemeinsam mit Benno Nothardt und Regina Wamper hat Margarete Jäger Passagen und auch ganze Kapitel neu verfasst, Teile gestrichen und hinzugefügt. »Wir wollten diese Neuauflage eigentlich mit Siegfried zusammen erarbeiten. Das war leider nicht mehr möglich.« Als Mitautor wird Siegfried Jäger weiterhin genannt, »denn er ist ja quasi der Vater der KDA«. Die bisherige »Werkzeugkiste« der KDA hätten sie um neue Kapitel zur Analyse von Bildern, Online-Diskursen, TV, Spezialdiskursen und Literatur erweitert. Hinzugekommen seien auch eine praktische Anleitung und Beispiele zur Anfertigung eigener Analysen. »Viel Arbeit«, fasst sie das Projekt zusammen.

Potenziale der Widersprüche

Die Diskursanalysen von Margarete und Siegfried Jäger von Anfang der 90er Jahre lesen sich hochaktuell. Sie verweisen beispielsweise auf die »rassistische Argumentation, bei der die mangelnde Gleichstellung der Frau bei eingewanderten Mitbürgern als Vorwand dient, sie abzulehnen«. Dass sich solche Argumentationsweisen oft als widersprüchlich herausstellen, darin erkennen sie auch ein Potenzial, um – beispielhaft in der Verschränkung von Patriarchat und Rassismus – »nicht nur die Handlungsperspektiven von Frauen zu erweitern, sondern auch die rassistischen Konstruktionen zu zerstören«.

In einem entscheidenden Punkt hätten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert, wie Jäger ausdrücklich betont: »Der Rassismus ist weiterhin da, keine Frage. Es gibt militante Rechtsextreme, das ist alles viel dichter geworden. Was sich geändert hat ist: Es gibt auch Widerstand dagegen.« Den habe es damals gesamtgesellschaftlich nicht gegeben. »Nach Rostock-Lichtenhagen, nach Mölln und Solingen, da gab es mal einen Aufschrei, aber das war es dann.« Aufgrund dessen hätten sich damals erst antirassistische Gruppen gebildet. Das sei ein Potenzial, das nicht unterschätzt werden dürfe.

Heute gebe es auch eine etablierte Rassismus-Forschung. »Ich glaube sogar sagen zu können, dass das DISS mit seinen Arbeiten auch ein guter Vorreiter gewesen ist«, fügt Margarete Jäger hinzu. Doch damit das DISS weiterhin ein Bezugspunkt kritischer Wissenschaft und linker Politik bleiben kann, ist es auf Unterstützung angewiesen. »Wir bleiben zuversichtlich«, sagt Jäger zum Abschied.

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