Aussätzige am Faxgerät

Unser Umgang mit dem Altwerden gehört revolutioniert, findet Thomas Blum

Komplexe, weil einer wieder besser, schneller, schöner war als man selbst? Kann man im Alter nur drüber lachen.
Komplexe, weil einer wieder besser, schneller, schöner war als man selbst? Kann man im Alter nur drüber lachen.

Erst denkt man sich lange Zeit nichts dabei und lässt es gleichmütig geschehen, dann geht plötzlich alles ganz schnell: Nein, nicht von Sex ist hier die Rede, sondern vom Altern. Eines Morgens wacht man auf und ist schlagartig alt, ohne dass man zuvor etwas davon gemerkt hätte. Gut, zugegeben, es gab im Alltag kleinere Anzeichen, die darauf hindeuteten, dass sich etwas verändert hat, doch sie kamen wie aus heiterem Himmel: Auf einmal ließen sich Knöpfe von Hosen nicht mehr schließen, die man jahrelang getragen hatte, ohne dass dabei je das geringste Problem aufgetreten war. Bei einem flüchtigen morgendlichen Blick in den Badezimmerspiegel glaubte man unversehens, das Antlitz des eigenen Vaters zu erblicken. Und woher kam die gelbe Haut im Gesicht? Wie war man jäh und lautlos über Nacht zum Ebenbild Homer Simpsons mutiert?

Es häuften sich außerdem besorgniserregende Momente in der Öffentlichkeit: Wenn man beispielsweise in der U-Bahn kurz aufschaute und dann feststellen musste, dass man der einzige im Waggon war, der Papier in der Hand hielt und kein Smartphone. Auf Popkonzerten war man der seltsame Kauz, der sich das Bühnengeschehen nicht durchs Display seines in die Höhe gehaltenen Handys ansah. Während die glatte und rosige Wangen zur Schau stellenden Pubertierenden um einen herum einen teils ungläubig, teils mit erkennbarem Ekel im Blick betrachteten, der zu fragen schien: »Kommt ihr jetzt schon zum Sterben hierher?«

Die gute Kolumne

Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute

So bewahrheitete sich unversehens, was der spanische Schriftsteller Ramón Gómez de la Serna uns einst lehrte: »Wir blicken in den Abgrund des Alters, und die Kinder kommen von hinten und stoßen uns hinein.« Aber gehörte man tatsächlich schon zum alten Eisen, nur weil man sich noch erinnern konnte, was ein Faxgerät war und welche Geräusche es machte? Hatte man es wirklich verdient, von 30-Jährigen wie ein Aussätziger behandelt zu werden, nur weil man noch wusste, wer Helmut Kohl war, sich länger als 15 Sekunden auf eine Sache konzentrieren konnte und noch die antiquierte Kulturtechnik des Lesens beherrschte?

Mit dem Älterwerden verhält es sich so, wie Theo Nahmmacher es einmal beschrieb: »Erst merkt man es selbst, dann auch die anderen, später nur noch die anderen.« Erst nimmt man mit Bestürzung wahr, dass einem von heute auf morgen Haare aus den Ohren wachsen; dann wird man eines Tages auf dem Weg ins Fitnessstudio von Fremden gefragt, ob man beim Überqueren der Straße Hilfe brauche; und einige Zeit später wundert man sich darüber, wer die frisch gewaschenen Socken in den Kühlschrank gelegt hat.

Altern geht rasend schnell: Soeben empfand man noch einen diffusen Stolz darüber, mit seinem nagelneuen Mono-Kassettenrecorder endlich erfolgreich das Lied »Video Killed The Radio Star« von den Buggles im Radio mitgeschnitten zu haben, ohne dass der Moderator am Anfang oder Ende in den Song hineingequatscht hat, und ehe man sich’s versieht – die Zeit vergeht wie im Fluge –, wird man prüfend angestarrt von großen Kinderaugen und misstrauisch danach gefragt, wie die Leute denn früher überhaupt Spotify hören konnten, wenn es damals angeblich kein Internet gegeben haben soll.

Hatte man es wirklich verdient, von 30-Jährigen wie ein Aussätziger behandelt zu werden, nur weil man noch wusste, wer Helmut Kohl war, sich länger als 15 Sekunden auf eine Sache konzentrieren konnte?

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Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft der Umgang mit dem Altern und dem Sterben nicht ein grundsätzlich anderer sein sollte. Ein Mensch mit Mitte 50 wird heute üblicherweise behandelt, als stünde er mit einem Bein im Grab und sei nichts als ein nutzloser Esser, den die Agentur für Arbeit nur noch als Poller in der Fußgängerzone einsetzen kann.

Im Widerspruch dazu wird in sämtlichen Broschüren und Zeitschriften das Alter geschönt dargestellt: Fotos zeigen ausschließlich geschniegelte, silberlockige, durchtrainierte Rentner mit frischem Teint, denen eine stählerne Lebensfreude förmlich in die Gesichtszüge gemeißelt ist und die noch »aktiv am Leben teilnehmen« – eine Formulierung, die allein schon eine infame Verhöhnung ist, weil sie unterstellt, dass ein 70-jähriger Mensch ruhig rückstandslos entsorgt werden könne, sofern er nicht aktiv an der entwürdigenden Ochsentour teilzunehmen wünscht, die einem hier als »Leben« angedreht wird.

Oder der alternde Körper verschwindet vollständig aus der öffentlichen Wahrnehmung, wird sozusagen ins Orwell’sche Gedächtnisloch verschoben. Die Tatsache, dass es Gebrechliche und Greise gibt, dass jedes Leben früher oder später in der Leichenhalle endet, soll möglichst aus dem Bewusstsein der Menschen getilgt werden. Während etwa die Werbung und die Medien uns nonstop mit Bildern pralle Lebensfreude verströmender Jugend versorgen und uns so die Gewissheit geben, dass wir uns sorgenfrei in einer Art ewig währendem Paradies befinden, sterben die Alten täglich vor sich hin, meist unseren Blicken entzogen, in den Sterbezimmern der Krankenhäuser und Seniorenverwahrungsanstalten.

Sicher ist jedenfalls: Die heutzutage Jungen werden es ihnen nachtun, spätestens in drei, vier Jahrzehnten.

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