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Tageszeitung »Junge Welt«: In bester Verfassung
Die »Junge Welt« wehrt sich dagegen, vom Verfassungsschutz gebrandmarkt zu werden. Andere linke Medien sollten genau hinsehen
Das Label »linksextremistisch« ist geschäftsschädigend. Das meint jedenfalls die Tageszeitung »Junge Welt«, die seit 1998 vom Verfassungsschutz so bezeichnet wird. Jährlich taucht das in Berlin ansässige Blatt im Verfassungsschutzbericht auf und wird auf dieser Basis nachrichtendienstlich überwacht.
Dagegen geht der Verlag 8. Mai GmbH, in dem die »Junge Welt« erscheint, nun vor: 2021 schon hat er die Bundesrepublik verklagt, am Donnerstag beginnen Verhandlungen in erster Instanz vor dem Berliner Verwaltungsgericht. Man sei gewillt, so der stellvertretende Chefredakteur Nick Brauns in einem Schreiben an »nd«, den Rechtsstreit notfalls durch alle Instanzen zu tragen. In geheimdienstlichen Maßnahmen gegen ein Presseorgan sieht die »Junge Welt« gleich mehrere grundgesetzlich verbürgte Grundrechte verletzt: nicht nur die Gewerbe-, sondern auch die Presse- und Meinungsfreiheit. Um Leserinnen und Leser über den Hintergrund der Verhandlungen aufzuklären, hat die Zeitung im Juni eine Sonderausgabe in hoher Auflage produziert, die auch anderen Zeitungen beigelegt wurde.
Ist die »Junge Welt« nicht nur ein journalistisches Produkt, sondern eine »Struktur«? Und die Redaktion ein »Personenzusammenschluss«, der einen Umsturz herbeiführen will? Das behauptet der Verfassungsschutz. Die »Junge Welt« sieht es anders, wie im Aufmacher-Artikel der Sonderausgabe zu lesen ist: Sie ist der Auffassung, dass es in Wahrheit ihre Gedanken sind, die aus der Medienlandschaft verbannt werden sollen. Und erinnert an eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag 2021, die ergab, dass der Verfassungsschutz der Zeitung durch Beobachtung und Stigmatisierung gezielt den »Nährboden entziehen« will.
Welche missliebigen Gedanken sind hier gemeint? Sich dies einmal näher anzuschauen, ist auch für andere linke Medien und deren Publikum ratsam – selbst wenn sie die Positionen der »Jungen Welt« nicht teilen sollten. Denn treffen kann es jede Institution, die sich mit ihrer Kritik am Status quo ein bisschen zu weit aus dem Fenster lehnt.
Im Fall der »Jungen Welt« hat diese Kritik System: Die Zeitung scheut sich nicht, damit zu werben, dass ihr Analyseinstrument der Marxismus ist. Diese klare Blattlinie ist dem Verfassungsschutz vermutlich ein besonderer Dorn im Auge. Denn bekanntlich ist der Marxismus nicht nur eine wissenschaftliche Methode, sondern auch eine revolutionäre Weltanschauung, die letztlich auf die Überwindung der Klassengesellschaft zielt. Das bedeutet allerdings nicht, dass die »Junge Welt«, weil sie marxistisch argumentiert, konkrete umstürzlerische Pläne hat – und demzufolge auch nicht, dass es erlaubt wäre, sie zu überwachen.
Indes lässt sich andersherum sogar argumentieren, dass Marxisten gar nicht gegen die Verfassung sind, sondern im Gegenteil die im Grundgesetz verbrieften Rechte besonders ernst nehmen. Im Sinne einer immanenten Kritik geht es ihnen traditionellerweise nicht darum, dem Gegebenen ein abstraktes Ideal entgegenzusetzen, sondern den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft herauszustellen.
Und dieser Widerspruch ist, sofern man sein Leben nicht mit gigantischen Scheuklappen bestreitet, schwer zu übersehen. So lautet der erste Abschnitt im Grundgesetz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Bloß: Tut die staatliche Gewalt das wirklich? Inwiefern lässt sich von Würde überhaupt sprechen, wenn man in Armut lebt, um seinen Aufenthaltsstatus fürchten muss oder auch nur dazu gezwungen ist, seine Arbeitskraft tagtäglich in einem nicht erfüllenden Job zu verkaufen?
Eine »freie Entfaltung der Persönlichkeit«, wie sie das Grundgesetz in Artikel 2 garantieren will, ist damit nur holder Wunsch. Und wie sollen alle Menschen »vor dem Gesetz gleich« sein, wenn sich so mancher Wirtschaftskriminelle gleichsam aus seinem Gerichtsverfahren herauskauft, während jemand, der sich kein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr leisten kann, wegen Schwarzfahrens eine Freiheitsstrafe verbüßen muss?
Es sind diese Diskrepanzen zwischen der Selbstbeschreibung einer Gesellschaft und ihrer Realität, an denen sich marxistisch orientierte Zeitungen und Periodika, die wie die »Junge Welt« im Interesse der Arbeitnehmer und der Renten- und Sozialhilfe-Empfänger berichten und argumentieren, kontinuierlich abarbeiten. Auch im »nd« finden sich marxistische Positionen und Argumente. Sie allein, weil sie der Gesellschaft den Spiegel vorhalten und auf den Klassengegensatz verweisen, als verfassungsfeindlich zu brandmarken, hat etwas Paradoxes.
Noch paradoxer wird es, wenn man sich verdeutlicht, dass staatliche Institutionen seit jeher auch ganz bewusst über die Verfassung hinweggehen, nach dem Motto: »Grundgesetz gerne – aber nur, wenn es uns in den Kram passt!« Es finden sich, wie Arnold Schölzel in der Sonderausgabe der »Jungen Welt« darlegt, dafür zahlreiche Beispiele: von der schon seit Gründung der BRD durchgeführten Post- und Telefonüberwachung im ideologischen Kampf gegen den Sozialismus über die Notstandsgesetze von 1968 bis hin zur Ausweitung von Polizeigesetzen und Einschränkungen der Versammlungsfreiheit in der jüngsten Vergangenheit.
Im Jahr 1949 sagte der Bundestagsabgeordnete Max Reimann von der KPD bei der Verkündung des Grundgesetzes: »Wir unterschreiben nicht. Es wird jedoch der Tag kommen, da wir Kommunisten dieses Grundgesetz gegen die verteidigen werden, die es angenommen haben.« So ist es tatsächlich gekommen. Es gilt, das Recht auf eine solche Verteidigung zu verteidigen.
Wir werden an dieser Stelle über den Prozessverlauf berichtet. Informieren kann man sich auch unter: www.jungewelt.de/prozess
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