Chemnitz: Abschiebung trotz Untersagung durch Gericht

Ausländerbehörde Chemnitz lässt 34-Jährigen trotz anderslautender richterlicher Anordnung abschieben

Wie im Fall von Mehdi N. werden Geflüchtete oft ohne Ankündigung aus ihren Unterkünften abgeholt oder zur Ausländerbehörde bestellt und dort in Abschiebegewahrsam genommen. Anschließend werden sie zu einem Flughafen gebracht und per Charter- oder Linienflug abgeschoben. In den meisten Fällen erfährt die Öffentlichkeit nichts davon.
Wie im Fall von Mehdi N. werden Geflüchtete oft ohne Ankündigung aus ihren Unterkünften abgeholt oder zur Ausländerbehörde bestellt und dort in Abschiebegewahrsam genommen. Anschließend werden sie zu einem Flughafen gebracht und per Charter- oder Linienflug abgeschoben. In den meisten Fällen erfährt die Öffentlichkeit nichts davon.

Schon wieder Chemnitz: Erst vor wenigen Tagen erfuhr der Sächsische Flüchtlingsrat, dass der 34-Jährige Mehdi N. bereits am 11. Juli in sein Herkunftsland Marokko abgeschoben wurde. Dies, obwohl das Verwaltungsgericht Chemnitz in einem Eilbeschluss entschieden hatte, dass die Rückführung ausgesetzt werden muss. Der Grund: Mehdi N. ist mit einer deutschen Staatsbürgerin verheiratet und Vater eines Kindes. Der »Leitfaden Rückführungspraxis« des sächsischen Innenministeriums sieht in solchen Fällen vor, dass Menschen bleiben dürfen.

Im Gerichtsbeschluss heißt es, die Abschiebung sei »aus rechtlichen Gründen unmöglich aufgrund der familiären Bindungen des Antragstellers in Deutschland«. Obwohl Inga Stremlau, die Anwältin des Mannes, am 11. Juli bei den zuständigen Behörden der Stadt Chemnitz und der Landesdirektion Sachsen anrief, wurde die Abschiebung, für die M. nach Frankfurt am Main gebracht worden war, nicht gestoppt. Die sächsischen Behörden leiteten den Gerichtsbeschluss einfach nicht an die mit der Abschiebung befasste Bundespolizei weiter.

Die Landesdirektion teilte gegenüber der Deutschen Presse-Agentur mit, man habe während der laufenden Abschiebung von dem Gerichtsbeschluss erfahren. Die Behörde sei aber nicht in das gerichtliche Verfahren einbezogen gewesen. In der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit sei gegen einen Stopp der laufenden Rückführung entschieden worden. Der Vorgang werde intern ausgewertet, und es werde auch die Möglichkeit geprüft, dass der Marokkaner vorläufig wieder einreisen darf.

Das Verwaltungsgericht hat seinerseits bereits die Rückholung von Mehdi N. auf Kosten der sächsischen Behörden angeordnet.

Von dem Vorgang zeigten sich Politiker*innen von Linkspartei und Grünen entsetzt und verlangten Aufklärung. Juliane Nagel, migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Sächsischen Landtag, zeigte sich »zutiefst empört«. Sächsische Behörden stellten »Beschlüsse von Gerichten infrage und hintertreiben deren Umsetzung wissentlich und willentlich«, erklärte sie am Freitag. Der Flüchtlingsrat hatte am Donnerstagnachmittag über den Vorfall informiert.

»Allein die Ehe des Betroffenen und das gemeinsame Kind sind ein veritables, grundgesetzlich geschütztes Abschiebehindernis«, betont Nagel. Die Linke werde »nicht zusehen, dass Behörden sehenden Auges Recht brechen«. Die gerichtliche Anordnung zur Rückholung von Mehdi N. sei umgehend zu vollziehen, fordert die Politikerin. Zudem verlangt sie »Konsequenzen für die zuständigen Sachbearbeiter*innen in der Ausländerbehörde Chemnitz – die nicht zum ersten Mal durch zweifelhafte Entscheidungen auffällt – und der Landesdirektion zu ergreifen«, sollten die Schilderungen des Flüchtlingsrates zutreffen.

Auch der rechtspolitische Sprecher der Grünen im Sächsischen Landtag, Valentin Lippmann, erwartet eine Erklärung von Ressortchef Armin Schuster (CDU), »wie es dazu kommen konnte und welche Maßnahmen ergriffen werden, um die Umsetzung von Gerichtsentscheidungen durch die Verwaltung jederzeit sicherzustellen«.

Mehdi N. lebte seit fünf Jahren in Deutschland. Er arbeitete in Chemnitz als Koch, besuchte gerade einen Integrationskurs und bemühte sich intensiv um die Erlangung eines Bleiberechts. Sein Asylantrag war abgelehnt worden, weshalb er lediglich über eine Duldung verfügte. Am 11. Juli war er frühmorgens aus einer Geflüchtetenunterkunft bei Chemnitz abgeholt worden.

Anwältin Stremlau schilderte gegenüber dem Flüchtlingsrat die Reaktionen der von ihr kontaktierten Behördenvertreter. Eine Sachbearbeiterin im Rechtsamt habe ihr einerseits mitgeteilt, sie sei nicht zuständig und habe den Gerichtsbeschluss an die Landesdirektion weitergeleitet. Zugleich habe sie betont, sie halte den Beschluss für »fehlerhaft«. Mehdi N. werd von ihrer Behörde »auf keinen Fall einen Aufenthaltstitel erhalten«, so dass ihr nicht einleuchte, warum von der Abschiebung abgesehen werden solle. An den Gerichtsbeschluss fühle sie sich nicht gebunden.

Die zuständige Sachbearbeiterin der Landesdirektion habe ihr wiederum mitteilen lassen, dass sie nicht die Absicht habe, den Beschluss weiterzuleiten, so Stremlau. Dieser sei schließlich gegen die Stadt Chemnitz und nicht gegen die Landesdirektion ergangen. Überdies halte sie den Beschluss für rechtsfehlerhaft und sei der Auffassung, dass die Abschiebung dennoch vollzogen werden könne und sie an die Entscheidung des Gerichts nicht gebunden sei.

Weil niemand den Beschluss der Bundespolizei in Frankfurt übermittelte, wurde Mehdi M. von dort am Abend des 11. Juli ausgeflogen. Stremlau beantragte daraufhin beim Verwaltungsgericht Chemnitz die Rückholung ihres Mandanten, mit Erfolg. Die Anwältin erklärte gegenüber dem Flüchtlingsrat, wenn sich die Behörden weiterhin nicht an die Anordnung des Gerichts zur Rückholung halten, werde sie dieses erneut einschalten und Zwangsgelder beantragen. Sie sieht im Vorgehen der Behördenverantwortlichen einen Fall von Rechtsbeugung.

Der Sprecher des Sächsischen Flüchtlingsrates, Osman Oğuz, weist auf die Kontinuität von Fehltritten der Chemnitzer Behörden. Der Fall Mehdi N. habe allerdings eine »neue Qualität«. Das sei »möglicherweise kein Zufall: An diesem Beispiel zeigen die Behörden, wohin der gefährliche Abschiebediskurs führen kann«. Sie arbeiteten damit rechtspopulistischen Kräften zu, die danach strebten, »demokratische Prozesse und Strukturen auszuhöhlen«. Rechtsmissachtung dürfe keine Normalität werden, mahnt Oğuz.

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