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Alberto Toscano: Der Rechtsstaat schützt nicht vor Faschismus

Der italienische Autor Alberto Toscano im Gespräch über den Faschismus der Gegenwart und unscharfe Grenzen zur Normalität

  • Interview: Raul Zelik
  • Lesedauer: 14 Min.
Der deutsche Milliardär Peter Thiel, Tesla-Chef Elon Musk und Argentiniens Präsident Javier Milei - drei rechtsextreme »Libertäre«.
Der deutsche Milliardär Peter Thiel, Tesla-Chef Elon Musk und Argentiniens Präsident Javier Milei - drei rechtsextreme »Libertäre«.

Sie kommen aus Italien, das seit 2022 mit Giorgia Meloni eine rechtsextreme Ministerpräsidentin hat. Manchmal hat man den Eindruck, es habe sich bisher gar nicht so viel verändert. Die Medien waren schon vorher rechts kontrolliert. Und auch die Massentötung von Geflüchteten im Mittelmeer oder der Einsatz libyscher Terrormilizen gegen Migrant*innen waren keine Erfindung Melonis.

Das ist wahr, es gibt eine Kontinuität. Aber das hat natürlich auch damit zu tun, dass Italien seit zwei Jahrzehnten Regierungen unter Beteiligung der extremen Rechten kennt. Und die Lega Nord tritt teilweise noch migrationsfeindlicher auf als Melonis »Fratelli«. Was die neue Regierung angeht, würde ich behaupten, dass die Veränderungen bisher vor allem auf der Ebene des Kulturkampfs stattfinden. Meloni propagiert den »Natalismus«, wirbt also für kinderreiche Familien, und verbreitet eine Panikstimmung in Gender- und Trans-Fragen. Weil sie aus dem Jugendverband der alten faschistischen Partei MSI kommt, fühlen sich die Rechtsextremen zu Aktionen auf der Straße ermutigt. Und schließlich hat Meloni eine recht pfiffige Wende in Richtung eines weit rechts stehenden Mainstream-Konservativismus hingelegt. Sie achtet darauf, nicht aus dem Nato-Konsens auszuscheren und die Unterstützung der Ukraine nicht zu blockieren. Zusammenfassend könnte man also sagen: Sie repräsentiert eher Kontinuität als Bruch. Aber das ist nicht verwunderlich. Meloni war 2008 bis 2011 Ministerin unter Berlusconi.

Interview

Alberto Toscano, 1977 in Moskau geboren, ist Gesellschaftswissenschaftler und Philosoph. Er lehrt als Professor an der Simon-Fraser-University in Vancouver/Kanada und veröffentlichte 2023 das von vielen Kritikern gefeierte Buch »Late Fascism. Race, Capitalism and the Politics of Crisis« (Verso, London).

Was würden Sie über die USA sagen? Auch da merken Kritiker an, dass es zwischen Obama, Trump und Biden mehr Kontinuität gegeben hat als oft angenommen.

Auch das stimmt. Im Fall der USA muss man die föderalen staatlichen Strukturen berücksichtigen. Gegen die »Reconstruction« nach dem Sezessionskrieg des 19. Jahrhunderts und gegen die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre hat die politische Rechte immer auf die »Rechte der Bundesstaaten« gepocht. Nach dem Wahlsieg von Trump und den Wahlerfolgen in vielen Staaten macht sie sich diese Spielräume jetzt zunutze. Sie hat zahlreiche Gesetzesinitiativen gestartet, um soziale und reproduktive Rechte – wie das Abtreibungsrecht – abzuräumen. Begleitet wurde das von einem Kulturkampf, der sich gegen feministische und queere Inhalte in der Schule richtet und den Antikommunismus der McCarthy-Ära aufgewärmt hat. Diese bundesstaatlichen Initiativen haben beträchtliche Wirkung entfaltet. Eigentlich ist es Ausdruck von Demokratie, wenn Kommunen vor Ort etwas entscheiden können. Aber auch die Direktwahl von Sheriffs und Richtern hat der extremen Rechten enorme Mittel in die Hand gegeben. Lokal sind wirklich folgenreiche Veränderungen bei Gesetzgebung und Repression durchgesetzt worden.

Dieser Prozess ist unter Präsident Biden einfach weitergegangen?

Das ist das Bemerkenswerte daran. Ich würde sagen, die extreme Rechte in der Republikanischen Partei und die hinter ihr stehenden, extrem finanzstarken Stiftungen verfolgen eine langangelegte Strategie, die von der kommunalen bis auf die föderale Ebene reicht. Viele Kommentatoren haben die Trump-Zeit als »schwache Präsidentschaft« bezeichnet. Es gab nicht allzu viele soziopolitische Veränderungen. Aber man hat Rahmenbedingungen für eine »molekulare Faschisierung« geschaffen – so könnte man das vielleicht bezeichnen. Dazu kommt eine große Kontinuität zwischen Demokraten und Republikanern hinsichtlich der Repressionsapparate. Polizeigewalt, die Kriminalisierung der Migration, Abschiebungen – das alles wurde durch die Regierungswechsel kaum beeinflusst.

Trotzdem wäre ein neuerlicher Wahlsieg Trumps verheerend.

In den USA wird gerade breit über das »Project 2025« debattiert – ein Strategiepapier der rechten Heritage Foundation. Das Netzwerk aus Rechtsextremen in der Republikanischen Partei, Geldgebern und Stiftungen ist heute gut genug organisiert, um bei einem Sieg Trumps und einer Eroberung des Kongresses viel effizienter vorgehen zu können als 2016. Vor allem auch vor dem Hintergrund, dass sich die Rechte auf den Obersten Gerichtshof stützen kann.

Faschismus wird oft als radikaler Bruch mit der bürgerlichen Ordnung verstanden. Schwarze Autor*innen kritisieren diese These schon lange. In den USA beispielsweise gehörten rassistische Lynchmorde bis in die 1960er Jahre zum Alltag. Oft versammelten sich Tausende weißer Nachbarn, um dem Mordspektakel beizuwohnen. Wo verläuft die Grenze zwischen bürgerlicher Normalität und Faschismus?

Es ist offensichtlich eine dünne Linie. Der schwarze Theoretiker W.E.B Du Bois hat das schon in seinem 1935 veröffentlichten Buch »Black Reconstruction« diskutiert. Rassistische Herrschaft und Terror sorgen für differenzierte, abgegrenzte Systeme der Unfreiheit. Du Bois interpretiert die Zeit nach dem amerikanischen Bürgerkrieg als eine Konterrevolution der Eigentümer – gegen den Abolitionismus und die radikale Demokratisierung, die damit einherging. Ein Schlüsselmoment dieser Gegenrevolution war der »Kompromiss von 1877«, der ein legales Regime rassistischen Terrors etablierte. Bis zur Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre waren entsprechende Gesetze in Kraft, und bis heute beeinflusst diese Konterrevolution den US-Verfassungsstaat. Meine These ist, dass das eine Parallele zum europäischen Faschismus aufweist – es ähnelt dem »Doppelstaat«, wie ihn der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel für den NS beschrieben hat. Auf der einen Seite gibt es einen Normenstaat, der eine legale Ordnung aufrecht erhält, auf der anderen Seite einen willkürlich agierenden Maßnahmenstaat. Die Grenze zwischen Rechtsstaat und Ausnahmezustand ist rassistisch gezogen.

In ihren Kolonien haben die europäischen Demokratien nichts Anderes gemacht.

Ja, unter Kolonialregimen und in siedlerkolonialen Kontexten ist dieser duale Staat die Regel. Schwarze Denker*innen weisen schon seit bald 100 Jahren darauf hin – neben Du Bois die karibischen Autoren Aimée Césaire und Frantz Fanon oder später Angela Davis. Wir müssen diese Perspektive einnehmen, wenn wir das Verhältnis von liberaler Normalität und rassifiziertem Autoritarismus verstehen wollen. Beides ist nicht identisch, aber hat doch starke Verbindungen.

Wie könnte man Faschismus in einem Satz definieren?

(lacht) Ich habe das Buch »Late Fascism« geschrieben, weil ich knappe Definitionen nicht immer für besonders hilfreich halte.

Hannah Arendt nennt folgende Kriterien: Willkürherrschaft, die Mobilisierung der Massen, rassistische Überlegenheitsideologie und Imperialismus. Stimmt das heute nicht mehr?

Ich sehe hier drei Probleme: Erstens müssten wir uns hinsichtlich des Imperialismus erst einmal darüber verständigen, was der Begriff heute bedeutet. Zweitens: Was die Massenmobilisierung angeht, bin ich mir nicht sicher, ob Arendts Argument historisch richtig ist. Der Nationalsozialismus war auch eine Bewegung zur Demobilisierung der Massen. Die Nazi-Aufmärsche hatten die Funktion, zu entpolitisieren und den antagonistischen Konflikt in der Gesellschaft zu beenden. Außerdem haben sich die materiellen und technologischen Bedingungen für Massenpolitik heute grundlegend verändert. Wir haben eine andere Klassenzusammensetzung, Kommunikation findet ganz anders statt, und auch wenn die extreme Rechte bei Wahlen sehr erfolgreich ist, kann von einer Massenorganisierung bislang nicht die Rede sein. Die AfD etwa hat überraschend wenig Mitglieder …

… 50 000, nicht mehr als »Die Linke« …

Das ist keine große Zahl. Ich denke, wir brauchen ein anderes Vokabular, um über Massenmobilisierung heute zu sprechen.

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Und was wäre der dritte Einwand gegen Arendts Definition?

Die Willkürherrschaft. In den USA erleben wir, dass viele der reaktionärsten Veränderungen auf rechtsstaatlichem Weg durchgesetzt werden. Gerade die Gerichte treiben die Entwicklung voran! In den USA gibt es überall bewaffnete Milizen, doch der Rechtsruck wird von finanziell gut ausgestatteten, heterosexuell ausgerichteten Gesetzesinitiativen befeuert, mit denen reproduktive Rechte beschnitten und antirassistische Inhalte aus den Schulen verdrängt werden. In dem Zusammenhang müsste man natürlich auch noch einmal diskutieren, welche Rolle die Justiz beim Aufstieg des historischen Faschismus gespielt hat.

Sie betonen in Ihrem Buch, dass der Freiheitsbegriff im neuen Faschismus eine zentrale Rolle spielt. Ultra-Libertäre wie der deutsche PayPal-Gründer Peter Thiel, Argentiniens Präsident Javier Milei oder auch Donald Trump wollen die totale Macht der Polizei mit einer totalen Freiheit für das Kapital verbinden. Das ist nicht neu – auch Hitler und Mussolini predigten das freie Unternehmertum. Aber die Rhetorik ist stärker geworden.

Beim Wirtschaftshistoriker Adam Tooze habe ich unlängst gelesen, dass sich AfD-Anhänger*innen überdurchschnittlich stark gegen den Wohlfahrtsstaat aussprechen, obwohl viele von ihnen vermutlich von ihm profitieren. Das kann man als Ausdruck dieses – extrem widersprüchlichen – Libertarismus sehen. Auf der einen Seite wollen sie einen hochgerüsteten Staat gegen Migrant*innen, andererseits soll der Sozialstaat am besten ganz verschwinden. Das hat natürlich eine Vorgeschichte: Der Hyper-Libertarismus hat sich als Ideologie der großen Steuerzahler im Silicon Valley ausgebreitet und ist dann Verbindungen mit der Kulturkampf-Rechten und den Sozialkonservativen eingegangen. Trumps Vizekandidat J.D. Vance und der hinter ihm stehende Multimilliardär Peter Thiel repräsentieren das.

... für den mittlerweile übrigens auch Österreichs christdemokratischer Ex-Kanzler Sebastian Kurz als »Global Strategist« und Moritz Döpfner, Sohn des Springer-Chefs, als Büroleiter arbeiten ...

Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen historischem und »Spät«-Faschismus besteht darin, dass die extreme Rechte heute keinen neuen Menschen schaffen will. Im Privatleben machen diese Leute vielleicht Bodybuilding und essen rohe Eier. Aber anders als in den 1920er Jahren gibt es keinen Aufruf zur anthropologischen Erneuerung. Das Denken der extremen Rechten kreist um die bevorstehende Katastrophe und den Verlust von Privilegien. Individuelle Freiheiten sollen bewahrt werden: die Freiheit, zu diskriminieren, zu herrschen und die Umwelt zu verschmutzen. Die Politikwissenschaftlerin Elisabeth Anker hat das als »üble Freiheiten« (ugly freedooms) bezeichnet. Für den libertär-reaktionären historischen Block, der sich gerade formiert, ist das ein ganz zentrales Motiv.

In Sachen Repression und sozialer Ungleichheit vereint: Donald Trump, Giorgia Meloni, der türkische Regierungschef Recep Erdoğan, AfD-Bundessprecherin Alice Weidel und Indiens Premierminister Narendra Modi.
In Sachen Repression und sozialer Ungleichheit vereint: Donald Trump, Giorgia Meloni, der türkische Regierungschef Recep Erdoğan, AfD-Bundessprecherin Alice Weidel und Indiens Premierminister Narendra Modi.

Handelt es sich also um eine nach hinten gerichtete, nostalgische Bewegung?

Ich würde sie als gewalttätig-defensiv bezeichnen. Adorno hat 1967 eine Vorlesung über den Aufstieg der NPD gehalten, in der es um das Gefühl der nahenden Katastrophe geht: »Wer nichts vor sich sieht, dem bleibt eigentlich gar nichts anderes übrig, als wie der Wagner’sche Wotan zu sagen: ›Weißt du, was Wotan will? Das Ende.‹« Dieser Nihilismus der Rechten ist in Anbetracht der sozialen und ökologischen Krise durchaus rational. Jemand, der die sozialen und ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft nicht ändern will, kann nur den Untergang propagieren. In der genannten Umfrage haben fast alle AfD-Wähler*innen geantwortet, dass die Kriminalität immer schlimmer werde: Sie sehen eine große Katastrophe heraufziehen, aber haben überhaupt kein Interesse daran, etwas an den Eigentums- und Ungleichheitsverhältnissen zu ändern, auf denen Kriminalität bekanntlich beruht.

Für den Nationalsozialismus waren Antisemitismus und die Landnahme im Osten von zentraler Bedeutung. Beides scheint im Moment eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Zumindest gibt es große Sympathien für Israel und Russland.

Faschismus war immer schon eine flexible Ideologie. Mussolini selbst hat das als Programm seiner Bewegung bezeichnet. Allerdings glaube ich schon, dass der Antisemitismus virulent bleibt. Die evangelikale Rechte in den USA beweist, dass Antisemitismus problemlos mit einer Unterstützung Israels als »zivilisatorischem Bollwerk im apokalyptischen Kampf gegen Islam und 3. Welt« vereinbar ist. Manche Antisemit*innen empfinden großen Respekt für Israel, weil sie sich mit der rassifizierten Herrschaft identifizieren, die dort ausgeübt wird. Zudem spielt der Antisemitismus auch in der rechtsextremen Kapitalismuskritik weiter eine tragende Rolle – die Feindschaft gegen Abstraktion, Finanzwesen und vermeintliche Strippenzieher. Nicht zuletzt deshalb pflegt die extreme Rechte weltweit eine Obsession für George Soros.

Und welche Rolle spielt die imperialistische Expansion im rechtsextremen Projekt von heute?

Da sehe ich einen klaren Unterschied. Die französische »Neue Rechte« betont schon seit den 1970er Jahren die »kulturelle Differenz«. Sie behauptet, die Vorstellung »rassischer« Überlegenheit abzulehnen, und kritisiert den US-Imperialismus. Das ist gewissermaßen der Vorläufer dieses »antiimperialistischen Faschismus«. Seit der Krise von 2007 und wegen der wirtschaftlichen Stagnation wächst außerdem das Bewusstsein – paradoxerweise auch unter Klimaleugner*innen –, dass natürliche Ressourcen knapper werden. Vor diesem Hintergrund geht es nicht mehr um Land, das erobert werden muss – die koloniale »Frontier« –, sondern um Grenzen, die geschlossen werden sollten. Das ist ein echter Bruch mit dem historischen Faschismus, der sich immer als siedlerkoloniales Projekt begriffen hat. Vor diesem Hintergrund können sich viele rechte Bewegungen heute als friedliebend präsentieren: »Wir sind nicht wie der italienische Faschismus, wir wollen keine Länder überfallen. Wir wollen nur unseren abgegrenzten nationalen und sozialen Raum verteidigen.« Und dann redet die Rechte auch noch darüber, dass ein Weltkrieg verhindert werden muss. Ich denke, dass Antifaschist*innen darauf eine Antwort finden müssen. Die These, dass die extreme Rechte hier einen geheimen expansionistischen Plan verfolgt, halte ich für nicht sehr überzeugend.

Im historischen Faschismus gab es immer diese doppelte Angst: vor der sozialen Revolution und vor einem »schwarzen Planeten«. Jetzt geht es offenbar nur noch um letzteres.

Ja, einerseits stehen Migration und »Natalismus« bei der extremen Rechten ganz oben auf der Agenda. Andererseits besteht die Panik vor einer kommunistischen Subversion weiter fort. In den USA waren Rassismus und Antikommunismus immer eng verbunden. Und es ist ja auch so, dass die Gefahr einer sozialen Revolution in Zeiten gesellschaftlicher Krisen wächst. Das Eigentum und die Privilegien geraten in Gefahr. »Kommunismus« ist möglicherweise nur eine Chiffre, um von dieser Katastrophe zu sprechen. In dem Zusammenhang ist übrigens auch interessant, dass die italienischen »Fratelli«, die AfD und all diese Parteien keinerlei materielle Angebote machen. Sie tun nicht einmal mehr so. Je liberalisierter die Wirtschaft ist, desto größer wird ihre Obsession für genderneutrale Toiletten und Schulbücher.

Der Faschismus hat sich historisch immer auf ein Bündnis mit der bürgerlichen Mitte gestützt. Was die Migrationsbekämpfung angeht, die in der englischsprachigen Debatte mittlerweile auch als »Grenzfaschismus« bezeichnet wird, sieht man bereits, dass liberale Parteien wenig Probleme haben, sich mit den Rechtsextremen zu arrangieren. Was »diversity« angeht, dürfte wiederum auch die extreme Rechte zu Zugeständnissen bereit sein. Die AfD-Vorsitzende Alice Weidel beispielsweise lebt mit einer nicht-weißen Partnerin in einer lesbischen Beziehung. Schwieriger könnte es in der Geopolitik werden: Die Bürgerlichen sind transatlantisch, die extreme Rechte will sich mit Russland arrangieren.

Giorgia Melonis Schachzug bestand darin, diese Spaltung zu überwinden und sich einer Nato-Position anzunähern. Ich denke, man müsste die Länder einzeln durchgehen, um zu sehen, wo sich Rechtsbündnisse formieren können. Aber in der Migrations- und Innenpolitik ist es sicher so, wie Sie sagen: Die Mitte-Parteien haben immer behauptet, dass sie sich in der Grenzpolitik oder bei der Verbrechensbekämpfung an die extreme Rechte annähern müssen, um die sozialliberale Gesellschaft zu bewahren. Wir haben gesehen, wo das hinführt. Im Übrigen teile ich die Ansicht des französischen Philosophen Jacques Rancière, der schon lange der Behauptung widerspricht, es gebe einen spontanen, von unten kommenden, plebejischen Rassismus, auf den der Staat nur reagiere. Nein, der Rassismus wird von oben, institutionell produziert und findet dann Legitimation bei der extremen Rechten. Aus Perspektive des Staates ist es immer gut, wenn negative gesellschaftliche Energien umgeleitet werden können.

Kommen wir zur Preisfrage: Wie lässt sich der Aufstieg der extremen Rechten stoppen? Was würden Sie der deutschen Linken empfehlen?

Wenn ich das wüsste … Mit Sicherheit müssen wir auf vielen unterschiedlichen Ebenen denken. Einerseits gibt es einen diskursiven Kampf in Öffentlichkeit und Institutionen. Dann braucht es selbstverständlich Gegenmobilisierungen auf der Straße, wie es sie in Großbritannien als Antwort auf die rassistischen Riots gab. Auch Kommunalpolitik kann zumindest in großen Städten ein Instrument sein, um antirassistische Bündnisse zwischen Bewegungen und gewählten Abgeordneten aufzubauen. Was die Wahlpolitik angeht, ist der Weg sehr viel steiniger. Wir haben hier andere Zeiträume, und es gibt immer das Erpressungspotenzial – wir werden ständig gezwungen, das kleinere Übel zu wählen. Aus der Summe der kleineren Übel ergibt sich am Ende aber dann doch oft das größere Übel.

Würden Sie in den USA Wahlkampf für Kamala Harris machen?

Niemals! Ich könnte es natürlich schon deshalb nicht, weil ich kein US-Bürger bin. Aber ihre anhaltende Unterstützung für den Krieg Israels – oder wie sie es nennt: »Israels Recht, sich zu verteidigen« – sind Grund genug, sich ihr zu widersetzen. Die Biden-Administration hat nicht die geringsten Anstalten unternommen, um die rechtsextreme israelische Regierung zu stoppen. Sie hat sich schlimmer verhalten als wirklich imperialistische Regierungen der Vergangenheit. Reagan hat Israel 1982 im Libanon Grenzen gesetzt. Kissinger, der wirklich eine diabolische Figur war, hat die Israelis 1973 zu einem Waffenstillstand bewegt, indem er klarmachte, dass ansonsten die Waffenlieferungen ausgesetzt würden. Die Biden-Regierung hingegen hat Netanjahu völlig freie Hand gelassen. Das war nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch politisch desaströs. Es ist gut möglich, dass Harris deshalb die Wahlen verlieren wird. Eine große Mehrheit der demokratischen und mittlerweile auch viele republikanische Wähler*innen wünschen sich einen sofortigen Waffenstillstand. In den Swing States gibt es starke arabische Communitys und große Universitäten, an denen Studierende, darunter auch viele jüdische Studierende, gegen den Krieg demonstriert haben. Ansonsten wird immer mit politischen Kosten argumentiert: Die Migrationspolitik muss härter werden, weil die Wähler*innen sich das so wünschen und so weiter. In dieser Frage hingegen zieht man etwas rücksichtslos gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit durch. Das sticht wirklich ins Auge.

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