Oscar Ludwig Bernhard Wolff: Ein poetischer Wundervogel

Diesen Vergessenen könnte man neu entdecken: Zum 225. Geburtstag von Oscar Ludwig Bernhard Wolff

  • Jens-F. Dwars
  • Lesedauer: 5 Min.
Professor, Schriftsteller, Enzyklopädist, Frühdadaist und »Plinius der Jüngste«: Benny Wolff
Professor, Schriftsteller, Enzyklopädist, Frühdadaist und »Plinius der Jüngste«: Benny Wolff

Wolff? Kurt Wolff war ein großer Verleger, der meinte, man solle nicht nur Bücher drucken, die die Leute lesen wollten, sondern solche, die sie lesen sollten. Also Bücher, die man sich erst erschließen muss. Ein anderer Wolff, Oscar Ludwig Bernhard, sagt bestenfalls noch denen etwas, die Karl Marx kennen: denn ihm verhalf Professor Wolff in Jena zum Doktortitel.

Doch es lohnt sich, den Vergessenen wiederzuentdecken. Vor 225 Jahren, am 26. Juli 1799, wurde Benny Wolff im damals dänischen Altona, heute ein Stadtteil von Hamburg, als Sohn des jüdischen Kaufmanns Eisig Wolff geboren. Sein Großvater mütterlicherseits war Bankier und führte ein weltoffenes Haus. Der frühreife Knabe konnte mit drei Jahren lesen und schreiben, lernte von den Gästen Englisch, Französisch und Dänisch, wurde von Hauslehrern unterrichtet und versprach eine glänzende Karriere. 1817 begann er in Berlin Medizin zu studieren, wechselte zwei Jahre darauf die Profession und den Ort: In Kiel hörte er Geschichte und Literatur, musste aber 1821 das Studium abbrechen und sich als Lehrer in Hamburg verdingen.

Die Gründe für diese erste Zäsur seines Lebens verschweigt Wolff in der Einleitung seiner immerhin 14-bändigen Werkausgabe von 1841 ebenso wie seine jüdische Abstammung. Offenbar waren die Geschäfte des Vaters gescheitert. Da tritt sein besonderes Talent zutage: der 25-Jährige versucht sich als Improvisator, er dichtet aus dem Stegreif. Das Publikum nennt ihm ein Thema und er verarbeitet es augenblicklich in Versform. Im steifen Deutschland, wo Dichter tage- und nächtelang über ihre Verse brüten, eine Sensation. Denn er liefert auch auf Englisch und Französisch Gedichte in mustergültiger Form. In Berlin gibt er zwei Soiréen, wird Stadtgespräch und lockt selbst die königliche Familie an.

Im Oktober 1825 geht Wolff auf »Kunstreise« über Bremen, Hannover, Braunschweig bis nach Leipzig und Dresden. Sein eigentliches Ziel ist Weimar: er möchte vor Goethe als seinem Richter bestehen. Der Dichterfürst empfängt ihn auch am 18. Januar 1826, doch will er von der Kunst des jungen Mannes nichts hören, es würde ihn »zu sehr zerstreuen«. Erst ein paar Tage später, von Goethes Schwiegertochter eingeladen, trifft er den Alten erneut, der sich nun eine Probe vortragen lässt. Sein Urteil: Wolff leide an der Krankheit aller jungen Leute, er sei zu »subjektiv«. Der Prüfling wird es dem Prüfer heimzahlen und ihm in seinem »Büchlein von Goethe« (1832) allzu große Objektivität attestieren, das heißt dem Mangel an Herz. Carl August, Großherzog von Sachsen, gefällt der Stegreifdichter, dem er eine Professur am Weimarer Gymnasium anbietet. Goethe gefällt es nun auch, den »poetischen Wundervogel zu fixieren« und Wolff willigt sogleich in die Bedingungen des neuen Amtes ein: Er verzichtet auf die Auftritte als Improvisator, gibt sich den Vornamen Oscar und konvertiert zum Christentum – wie sein Jugendfreund Harry Heine.

Im Klassikernest bleibt er ein Fremdkörper. Durch Goethes Vermittlung erhält er zum 1. Januar 1830 eine außerordentliche Professur für neuere Sprachen und Literatur, die 1837 in eine ordentliche verwandelt wird. Wolff gibt ein Kolleg über den »Faust« und hält Vorlesungen zur Geschichte der deutschen und der europäischen Literatur seit dem 15. Jahrhundert, womit er zum Mitbegründer der modernen Germanistik wird. Nicht nur die Themen, mehr noch die Vortragsweise begeistert die Studenten: Während andere mühselig aus ihren Büchen lasen, verzaubert Wolff sie mit freier Rede.

Kein Wunder, denn er war ja auch Schriftsteller: Wolff schrieb Romane, Novellen, Gedichte, Reiseführer, Lexika und Anthologien, übersetzte aus zahlreichen Sprachen und wirkte an Sammelwerken mit. 1828 übertrug er aus dem Englischen indische Dramen. Wenig später brachte er »Denkwürdigkeiten eines Hoflakaien« heraus, das fiktive Tagebuch eines Spötters, der einem Fürsten zu Rattenhausen dient, 1831 seinen Roman »Irrwische des Tages«. Danach edierte er ein »Neues Conversations-Lexicon für Gebildete aus allen Ständen« in vier Bänden. 1837 folgte eine »Encyclopädie der deutschen Nationalliteratur« in sieben Bänden (ein achter erschien zehn Jahre später). Noch immer bemerkenswert ist seine »Allgemeine Geschichte des Romans« (1841) von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Und unter dem Pseudonym »Plinius der Jüngste« schrieb er eine Satire auf das Universitätsleben und veröffentlichte »Die kleinen Leiden des Menschlichen Lebens« mit Zeichnungen von Jean-Jacques Grandville, dessen grandioses Opus »Eine andere Welt« er 1847 übersetzte, das Elemente von Dada und Surrealismus vorwegnahm.

Seine größten Erfolge hatte er mit den Anthologien »Poetischer Hausschatz des deutschen Volkes« (1839) und »Poetischer Hausschatz des Auslandes« (1848). Origineller war seine »Lateinische Grammatik« (1851), in der er wie einst Johann Gottfried Seume scharfe Zeit-Kommentare in Gelehrten-Latein verpackte. Solcherart Witz ziemte sich nicht auf deutschen Universitäten. Noch in der »Allgemeinen Deutschen Biographie« der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erklärte man ihn 1898 zum Vielschreiber, der sich mit seinem »unfeinen« Humor überschätzt habe, vereinsamt und verbittert sei und zuletzt »den Radicalen in die Arme« geriet.

Tatsächlich hatte Wolff in 25 Jahren über hundert Buchtitel veröffentlicht, die einschließlich Neuauflagen bis zu seinem Tod am 13. September 1851 stolze 225 Bände füllten. Während Freunde die Produktivität des Autors auf sein geringes Professorengehalt zurückführten, suggerierten andere, dass bloße Eitelkeit den einstigen Improvisator antrieb. Und in einem Nekrolog von 1853 heißt es gar, »daß er in der Literatur immer etwas zu schachern haben musste«. Da blitzt er für einen Augenblick auf, jener heimlich unheimliche Antisemitismus, mit dem er sein Leben lang gerungen hat: trotz christlicher Taufe, trotz Verleugnung seiner jüdischen Herkunft, trotz jahrelanger Mühen, die Poesie den Deutschen zugänglich zu machen – immer blieb er ein Außenseiter, was ihn für Außenseiter wie Grandville empfänglich gemacht hat. Für den Anarchisten und Komponisten Richard Wagner, dem er auf seiner Flucht durch Thüringen 1848 half, und wohl auch für diesen eigenwillig begabten Studenten Karl Marx, den Sohn eines jüdischen Advokaten, der sich 1820 taufen ließ. Höchste Zeit, Oscar Ludwig Bernhard Wolff wiederzuentdecken.

Eine lange Fassung dieses Textes findet sich in »Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen«, Heft 1/2024.

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