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Ausländische Arbeiter: Schutzlos ausgebeutet
In Deutschland sind ausländische Arbeiter oft extremer Ausbeutung ausgesetzt. Vielfach fehlt es an Hilfe
In Deutschland sind laut Schätzungen Tausende ausländische Arbeiter*innen widrigsten ausbeuterischen Bedingungen ausgesetzt, überwiegend auf dem Bau, in der Landwirtschaft oder in der Logistik. »Wir haben es teilweise mit mafiösen Strukturen zu tun«, erklärt Pagonis Pagonakis von der gewerkschaftsnahen Organisation Arbeit und Leben gegenüber »nd«. Er berät Betroffene von Menschenhandel und Arbeitsausbeutung. Laut Pagonakis werden Lohnabhängige aus osteuropäischen Ländern wie Rumänien oder Drittstaaten außerhalb der EU gezielt über Leiharbeitsfirmen mit falschen Versprechungen angeworben.
In Deutschland angekommen, finden sich die Arbeiter*innen in einer extremen ökonomischen und psychischen Abhängigkeit vom Arbeitgeber wieder, erklärt Pagonakis. Die von der Leiharbeitsfirma versprochene Reise falle meist teurer aus, als angekündigt, wodurch Schulden beim Unternehmen entstehen. »Vor Ort müssen sie einen Vertrag unterschreiben, den sie nicht verstehen«, sagt der Berater. Mieten für die Unterkunft, zu der die Arbeitgeber oft einen direkten Zugang haben, werden vom Lohn abgezogen, Sozialabgaben nur unvollständig oder gar nicht gezahlt. »Ihre Zwangslage oder Hilflosigkeit werden systematisch ausgenutzt«, berichtet Pagonakis.
Darüber, wie viele Menschen in Deutschland von Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung betroffen sind, gibt es keine annähernd realistische Einschätzung. Und das, obwohl es sich um ein schweres Menschenrechtsverbrechen und in Deutschland seit 2016 um eine Straftat handelt. Laut Statistiken des Bundeskriminalamtes, das für die Strafverfolgung zuständig ist, waren allein im Jahr 2022 über 1000 Arbeiter betroffen, ein Anstieg um das Fünffache gegenüber dem Vorjahr. Ursache dafür war laut BKA der Abschluss eines Großverfahrens. Doch viele Fälle landen gar nicht erst in der Statistik, sodass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher liegt, schätzen die Beratungsstellen.
Für die Betroffenen ist es schwer, sich zu wehren, erklärt Naile Tanış, Leiterin der Berichterstattungsstelle Menschenhandel beim Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR). Die Organisation ist seit 2022 von der Bundesregierung mit der unabhängigen Berichterstattung zur Bekämpfung des Menschenhandels betraut und hat zum Welttag gegen Menschenhandel einen Bericht zur Lage in Deutschland erstellt.
Daraus geht hervor, dass Betroffene, die sich gegen die Täter*innen wehren wollen, meist mit existenziellen Folgen konfrontiert sind, darunter der Verlust ihrer Arbeit und damit ihres Einkommens; ihnen droht Wohnungslosigkeit, auch Gewalt durch den ehemaligen Arbeitgeber. Hinzu kommt, dass viele Betroffene ihre Rechte nicht kennen und sie sich nicht trauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. »Sie haben Angst, dass sie sich selbst strafbar gemacht haben«, sagt Tanış.
Das liege zum einen an mangelnder Aufklärung unter den Arbeiter*innen, zum anderen aber auch an der aktuellen Rechtslage. Denn derzeit ist der Ermittlungsauftrag für die zuständige Behörde Finanzkontrolle Schwarzarbeit sehr allgemein gefasst, bemängelt Tanış. Die Beamt*innen müssen auf Verdacht gleichermaßen gegen Unternehmen wie Beschäftigte ermitteln – auch wenn letztere besondere Schutzrechte geltend machen können, sofern sie Opfer von Menschenhandel sind. Tanış fordert darum, dass die Schwarzarbeitkontrolle von den anderen Ermittlungen getrennt wird.
Doch auch auf behördlicher Ebene mangelt es an Wissen. Zwar funktioniere die Zusammenarbeit mit den Behörden immer besser. Aber gerade in ländlichen Regionen seien die Beamt*innen nicht hinreichend ausgebildet und sensibilisiert, erklärt Pagokanis von der Organisation Arbeit und Leben auf nd-Nachfrage. Teilweise wird die Strafverfolgung aufgrund von persönlichen Kontakten zwischen lokalen Beamt*innen und Unternehmer*innen erschwert, erzählt er. »Es werden Informationen durchgestochen.«
Neben einer verstärkten Aufklärungsarbeit und rechtlichen Reformen bedürfe es zudem dringend zusätzlicher Räume für Betroffene, um sie vor ihren ehemaligen Arbeitgebern zu schützen. Das könne sie dazu ermutigen, in Ermittlungsverfahren als Zeug*innen aufzutreten, ohne dass sie unter Druck gesetzt werden können.
Doch an solchen Schutzräumen mangelt es laut Studienautor*innen derzeit insbesondere in Anbetracht des angespannten Wohnungsmarktes. Schon jetzt greifen die Beratungsstellen etwa auf Hotels und Pensionen zurück, die sie eigens anmieten. Aber das ist teuer und auf Dauer fehlt dafür das Geld, heißt es in der DIMR-Studie. Zwar könnten Arbeiterinnen auch temporär in Frauenhäusern untergebracht werden, die eigentlich für Betroffene von häuslicher Gewalt vorgesehen sind. Doch die befinden sich aufgrund struktureller Unterfinanzierung an der Belastungsgrenze; und für betroffene Männer, Paare und Familien stehen die nicht zur Verfügung. »Es kann und darf nicht sein, dass Menschen, die in Deutschland ausgebeutet werden und sich an Behörden oder Beratungsstellen wenden, nicht vor Täter*innen geschützt untergebracht und da stabilisiert werden können«, kritisiert Tanış.
Gemeinsam mit den Beratungsstellen fordert sie darum die Einrichtung eines Fonds, damit die Beratungsstellen unabhängig und kurzfristig Räume für Betroffene anmieten können. Dabei könne man sich an einem Modell aus Berlin orientieren, erklärt Pagonakis. Die Größe des jeweiligen Fonds müsse dabei vom Bedarf in der Region abhängen. Konkretere Zahlen könne er bislang nicht nennen. »Aber 1000 Euro pro Person sind eine gute Faustregel«, erklärt er auf nd-Nachfrage.
Ferner müsse die Regierung bundesweit einheitliche Schutzstandards festlegen und die Hürden senken, damit Betroffene stabilisiert werden und so eine Arbeits- und Lebensperspektive in Deutschland entwickeln können, unterstreicht Tanış. Dazu müsse auch die Empfehlung aus dem Koalitionsvertrag der Ampel umgesetzt werden, ein Aufenthaltsrecht unabhängig von der Kooperationsbereitschaft im Strafverfahren zu ermöglichen.
Zudem fordern Gewerkschaften eine strengere Regulierung beziehungsweise das Verbot von Leiharbeit und Werkverträgen, etwa in der Paket- und Lieferbranche sowie in der Landwirtschaft. In der Fleisch verarbeitenden Industrie hatte ein solches Verbot zuletzt zu einer deutlichen Verbesserung geführt. Allerdings reicht eine rein nationale Regelung wohl nicht aus, wie das Beispiel Nordrhein-Westfalen zeigt: Dort werden durch Leiharbeitsfirmen angeworbene Arbeiter*innen untergebracht, die jetzt in der niederländischen Fleischindustrie ausgebeutet werden, berichtet Pagonakis.
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